Die Welt befindet sich im Ausnahmezustand. Demokratien stehen Kopf. Im Kampf gegen das Corona-Virus greifen viele Staaten auf eine Weise in die Grundrechte ihrer Bürger*innen ein, wie es in „Friedenszeiten“ schier undenkbar wäre. Versammlungsfreiheit aufgehoben, Bewegungsfreiheit eingeschränkt – es fühlt sich an, als würden uns plötzlich imaginäre Fußfesseln angelegt. Dabei haben die Menschen hierzulande durchaus Verständnis für die auferlegten Beschränkungen. Laut einer market-Umfrage halten 92 Prozent der österreichischen Bevölkerung die von der Regierung getroffenen Maßnahmen für gerechtfertigt. Folglich werden sie im Großen und Ganzen auch eingehalten. Nicht das Recht gehe derzeit vom Volk aus, wie es Hubert Patterer in der Kleinen Zeitung etwas überspitzt formuliert, sondern der Gehorsam.

Den meisten scheinen also zu verstehen, dass sie sich in dieser außergewöhnlichen Situation zum Wohle aller an strenge Richtlinien halten müssen. Die größte Krise unserer Generation erfordert nun einmal außerordentliche Mittel. Der springende, für unsere liberale Gesellschaft aber so wichtige Punkt ist, wie dieser „Gehorsam“ zustande kommt. Baut er vor allem auf staatlich angeleitete Überwachung inklusive der Bestrafung jener Individuen, die sich nicht an die Vorschriften halten? Technologisch gesehen ist die totale Kontrolle ja bereits möglich, wie das chinesische Beispiel anschaulich vor Augen führt. Die Behörden im Corona-Ursprungsland wissen nicht nur zu jedem Zeitpunkt über den Aufenthaltsort jeder einzelnen Bürger*in Bescheid, sie verfügen auch über einen direkten Informationszugriff auf den Gesundheitszustand ihrer „Untertanen“. Oder ergibt sich das erwähnte Wohlverhalten, weil die Politik die Bevölkerung in ihren Anstrengungen aktiv mit an Bord holt? Wie sich nämlich im Zuge der Corona-Krise zeigte, machte genau dieser Weg in Südkorea, Taiwan oder Singapur erfolgreich Schule. Diese Länder stützten sich in ihren Bemühungen vor allem auf umfangreiche Tests und die freiwillige Kooperation einer gut informierten Öffentlichkeit.

Es braucht also keine Totalüberwachung, um die Gesundheit zu schützen und die Pandemie zu stoppen. Es reicht vollkommen aus, wenn die Menschen die wissenschaftlichen Fakten kennen und den Behörden glauben, die ihnen diese Fakten vermitteln, so dass sie eigenständig die für sich und alle anderen richtigen Entscheidungen treffen können. Eine Bevölkerung, die aus eigenem Antrieb heraus handelt und gut informiert ist, ist wirkungsvoller als eine in Unwissenheit gehaltene und überwachte Gesellschaft. Dies wäre auch der Weg, der unserem liberalen Grundverständnis entspräche und uns möglichst nahe an den verfassungsmäßig verbrieften Freiheitsrechten hielte. Um diesen Weg beschreiten zu können, brauchen die Menschen allerdings Vertrauen. Vertrauen in die Wissenschaft, Vertrauen in Politik und Behörden ebenso wie Vertrauen in die Medien, welche die entsprechenden Informationen weitergeben. Ein solches „Vertrauensverhältnis“ entsteht durch Transparenz und Offenheit in der Kommunikation sowie ehrliche Kritik und Fehleranalyse der getroffenen Maßnahmen. Die politische Führung in ganz Europa hat nun die Wahl. Schafft sie Vertrauen und stärkt die liberale Demokratie mit selbstbestimmten Bürger*innen oder gibt sie autoritären Versuchungen zum Zwecke der eigenen Machtsteigerung nach?

Leider gibt es auch in der EU Länder, die eher zu letzterem neigen und es betrifft wohl nicht zufällig jene, die schon vor der Corona-Krise als demokratiepolitische Sorgenkinder der Union galten. So war dieser Tage aus den Nachrichten zu erfahren, dass die häusliche Quarantäne in Polen nun per App kontrolliert wird. Um zu prüfen, ob die Betroffenen wohl am Ort der Isolation bleiben, werden sie über die App aufgefordert, mehrmals am Tag unangekündigt ein Selfie zu machen, das mit einem ersten Bild von dem Quarantäneort übereinstimmt. Die App lässt den Anwender*innen 20 Minuten Zeit dafür. Halten diese die Frist nicht ein, wird eine Mahnung verschickt. Wenn nach weiteren 20 Minuten keine Antwort erfolgt, werden die Strafverfolgungsbehörden via App informiert. Auch auf politischer Ebene wird Druck ausgeübt. So versuchen Vertreter*innen der regierenden PiS-Partei gerade, ihre Macht unter dem Deckmantel der Epidemie weiter einzuzementieren (siehe: https://ewaernst.at/ist-auch-polen-schon-verloren/).

Die absolute demokratiepolitische Hiobsbotschaft kam aber aus Ungarn, das wegen Angriffen auf die Gewaltenteilung und die Medienfreiheit ohnehin schon im Visier der EU-Grundrechtsschützer steht. Dort hat Ministerpräsident Viktor Orban im Fahrwasser der Krise die Gelegenheit genutzt, um die Demokratie in seinem Land gleich ganz über Bord zu werfen. Ausgestattet mit der nötigen Zweidrittelmehrheit hat die Regierungspartei Fidesz ein Notstandsgesetz durchgepeitscht, dass Orban mit einer diktatorischen Machtfülle ausstattet. Er kann nun für unbegrenzte Zeit und ohne jegliche parlamentarische Kontrolle auf dem Verordnungsweg regieren, Wahlen sind ausgesetzt. Keine Krise der Welt rechtfertigt einen solchen Schritt, kein Virus zwingt uns, rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft zu setzen!

In dieses autoritäre Bild passen auch geplante Änderungen im ungarischen Strafrecht, die bis zu acht Jahre lange Haftstrafen bei Verstößen gegen die Coronavirus-Quarantänemaßnahmen vorsehen. Auch die Einführung von Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren für die Verbreitung von „Falschnachrichten“ über das neuartige Coronavirus und über die zu seiner Eindämmung verhängten Maßnahmen sind im Gesetzesentwurf enthalten. Wer weiß, dass Journalist*innen in Ungarns staatlichen Medien jetzt schon eine Erlaubnis ihrer Vorgesetzten brauchen, wenn sie über Themen wie Migration, Kirche oder auch nur Greta Thunberg berichten wollen, der/dem wird ob solcher Nachrichten wahrlich unwohl.

„Die EU darf diesen weiteren Affront gegen die europäische Demokratie auch im Home office-Modus nicht tolerieren“, sagt die Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europaparlament, Monika Vana. Sie fordert alle EU-Institutionen auf, die Opposition in Ungarn im Kampf für die Wiedererlangung der Demokratie nicht allein zu lassen. Klar ist: Das Ermächtigungsgesetz ist nicht nötig, um erforderliche Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus zu treffen. Die unbegrenzte Dauer des Ausnahmezustands, das Verbot von Wahlen und Gefängnisstrafen für die Verbreitung von Informationen, sind eindeutige Schritte in Richtung Diktatur. Orban legt Ungarn, 30 Jahre nach der Befreiung von der kommunistischen Einparteienherrschaft, erneut Fesseln an. Wenn Möchtegernautokraten in Europa demokratische Grundwerte über Bord werfen, braucht es ein lautes STOPP und keine Finanzierung dieser.

Auch wenn sich mit dem derzeitigen Hochziehen der Grenzen der Blick über den nationalen Tellerrand eingetrübt hat, dürfen wir jetzt nicht wegschauen. Zum einen brauchen nun gerade die Verteidiger*innen der Demokratie in Ungarn unsere volle Solidarität und Unterstützung. Zum anderen dürfen wir die Gefahr, die aus diesem demokratiepolitischen Negativbeispiel für ganz Europa ausgeht, nicht unterschätzen. Heute steht Ungarn an der Kippe. Welches Land kommt als nächstes? Lebendig sind noch die Erinnerungen an einen ehemaligen österreichischen Vizekanzler, der genau jenen Orban, der nun in seinem Land die Demokratie aushebeln will, als Vorbild bezeichnet hat…

Erst wenn alle Länder Europas ihre Notfallmaßnahmen wieder außer Kraft gesetzt haben und sozusagen auf demokratischem „Normalbetrieb“ laufen, werden wir endgültig wissen, ob wir unseren demokratiepolitischen Stresstest bestanden haben. Bis dahin gilt es wachsam zu bleiben und jeglichen autoritären Anfängen zu wehren!