100.000 gefechtsbereite Soldaten an der Grenze zur Ukraine, dazu schweres Gerät, Drohnen, Luftwaffe. Gemeinsame Manöver russischer & belarusischer Truppen ebendort – ist das, was da passiert, egal?

Die Ankündigung des illegitimen belarusischen Machthabers Lukaschenko, im Falle eines Krieges an der Seite Russlands zu stehen sowie dessen Anerkennung der annektierten Halbinsel Krim als russisches Staatsgebiet zeigen deutlich: Der russische Präsident gießt in dem von ihm seit 2014 befeuerten Konflikt in der Ostukraine wieder Öl ins Feuer. Sein belarusischer Vasall, der ihm seit dem völligen Bruch mit Europa ausgeliefert ist, sekundiert. Beobachter*innen spekulieren nun, was Putin mit dieser gefährlichen Eskalation bezwecken möchte. Manche gehen davon aus, dass er von innenpolitischen Problemen ablenken will. Der russische Bär brüllt traditionellerweise immer besonders laut, je tönerner die Füße sind, auf denen er steht. Es wird auch die Vermutung geäußert, Putin wolle die Entschlossenheit des Westens in Bezug auf Belarus, den Status der Ostukraine und/oder die bestehenden EU- und US-Sanktionen testen.

Dies mag alles stimmen, doch greifen diese Erklärungen zu kurz. Hier geht es um weit mehr denn um strategische Interessen oder machtpolitische Geospiele. Hier geht es um tiefe identitätspolitische Überzeugungen. Wer die Aussagen Putins über die Jahre mitverfolgt hat, der weiß, dass dieser die Eigenständigkeit der Ukraine in Abrede stellt, weil er in völliger Verkennung historischer und ethnogenetischer Entwicklungen Russen und Ukrainer als ein Volk sieht. Im Sommer hat der Staatschef einen Artikel über die „historische Einheit von Russen und Ukrainern“ veröffentlicht (nachzulesen auf der offiziellen Kremlseite), der in Bezug auf die territoriale Integrität, das Selbstbestimmungsrecht oder die Bündnisfreiheit der Ukraine keine Zweifel offen lässt. Das Vorgehen gegenüber der Ukraine ist also in wesentlichen Zügen von einem hegemonialen Selbstverständnis getrieben, das sich aus einer revisionistischen Ideologie speist, die in Russland neben Putin noch viele Anhänger*innen hat. Da die „Größe der Nation“ auch für den/die russische Durchschnittsbürger*in eine relevante Frage ist, kann Putin folglich auch innenpolitisch mit breiter Unterstützung für seine Großmannssucht rechnen.

Wie zurück zum Frieden kehren? Die NATO, deren Außenminister gerade in Riga tagen, geht schon einmal in den Krisenmodus. „Die militärischen Aktivitäten Russlands an der Grenze zur Ukraine geben uns Anlass zu größter Sorge“, sagt der deutsche Außenminister Heiko Maas. Wichtig seien jetzt Schritte zur Deeskalation. „Ich werde nicht müde zu betonen, dass die Tür zu solchen Gesprächen für Russland weiter offensteht.“ Zugleich warnte Maas: „Für jegliche Form von Aggression müsste Russland einen hohen Preis zahlen. Es besteht Einigkeit darüber, dass eine Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine ernsthafte Konsequenzen hätte – politische, aber auch sicherlich wirtschaftliche.“ Ähnlich äußerten sich Stoltenberg und US-Außenminister Antony Blinken, der Beweise für von Moskau geplante Aggressionen gegen die Ukraine haben will. „Jede neue Aggression würde schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen“, erklärte letzterer. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj würde über die Situation im Osten seines Landes gerne direkt mit Russland verhandeln, voll im Wissen darüber, dass ohne die Strippenzieher im Kreml ohnehin nichts geht. Moskau winkt jedoch ab, da es sich nicht als Konfliktpartei sieht und drängt die Ukraine stattdessen zu direkten Verhandlungen mit den Rebellen in Donezk und Luhansk. Eine Farce. Es geht aber auch um die Frage der Verlegung der US-Atomwaffen ostwärts für den Fall, dass Deutschland seine Politik in der Sache ändern könnte. Lukaschenko erklärte bereits sein Land sei bereit, im Falle einer Ostwärts-Verlegung von US-Atomwaffen russische Atomwaffen zu stationieren. Der russische Außenminister Lawrow beschrieb daraufhin Lukaschenkos Vorstoß als „ernste Warnung“, die von „der rücksichtslosen westlichen Politik“ provoziert worden sei.

Wie weiter? Dass die NATO zu Gunsten eines Nicht-Mitglieds in einen Krieg eintreten würde, ist praktisch unvorstellbar. Putin weiß das. Aber Krieg darf sowieso nie die Lösung sein. Bei allen Interaktionen mit Putin sollte man zudem im Hinterkopf behalten, dass dieser die Demokratie westlichen Zuschnitts ablehnt. Er legt die mit langwierigen Diskussionen verbundenen Entscheidungsfindungen, die der Berücksichtigung möglichst vieler Interessen dienen, als Schwäche aus. Dabei ist genau dies die Stärke einer Demokratie. Nur im Umgang mit Autokraten sollte Europa mit einer Stimme sprechen. Das erleichtert dem russischen Präsidenten, die Folgen etwaiger kriegerischer Tathandlungen im Vorhinein abzuschätzen. Ich plädiere dafür, dass die EU eine Bandbreite möglicher Sanktionen ausarbeitet und diese bereits im Vorfeld bekannt macht. Putin soll wissen, mit welchen Konsequenzen – politisch, wirtschaftlich und finanziell – er bei einer weiteren Eskalation rechnen muss.

Über all diese Aspekte hatte ich heute Gelegenheit mit der polnischen Botschafterin Jolanta Kozlowska, dem Botschafter Donatas Kušlys aus Litauen und der Botschafterin Guna Japina aus Lettland zu diskutieren, sind diese Länder von den Entwicklungen in der Ukraine und im Belarus doch selbst betroffen – danke für den spannenden Austausch!