Kriegsverbrecher gehören vors Gericht
Kriegsverbrecher gehören vors Gericht oder an die 600 Menschen, darunter Kinder, wurden durch russische Luftangriffe im Mariupoler Dramatheater getötet, zeigen neueste Ermittlungen von Associated Press. Ein bitterer, wie notwendiger Bericht von vor Ort.
Die Ukraine untersucht nach Angaben der Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa in Zusammenarbeit mit internationalen Ermittler*innen derzeit rund 10.000 Fälle mutmaßlicher Kriegsverbrechen. Hinzu kommen ca. 4000 weitere Fälle in Zusammenhang mit Kriegsverbrechen im Kontext des russischen Angriffskriegs. Bei den untersuchten Taten handelt es sich laut Wenediktowa um die Tötung von Zivilist*innen, den Beschuss ziviler Infrastruktur, Folter, Sexualverbrechen, sowie um den Einsatz verbotener Waffen. Die Generalstaatsanwältin will alle Möglichkeiten der internationalen Justiz nutzen, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
Die Beweissammlung zur Ahndung all dieser Verbrechen läuft auf Hochtouren. Ermittler*innen der Internationalen Strafgerichtshofs sind seit Anfang März in der Ukraine. Eine Untersuchungskommission der UNO ist ebenfalls mit 45 Mitarbeiter*innen vor Ort, zwölf weitere unterstützen die Mission aus dem Ausland. Auch Ukraine selbst sammelt natürlich Beweise, mit einem von der EU unterstütztem Team. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch (HRW) oder Amnesty International (AI), Geheimdienste, investigative Plattformen und Medien beteiligen sich an der Beweissammlung ebenso wie Privatpersonen, die Open-Source-Daten, Satellitenbilder und Drohnenaufnahmen auswerten. Bei der Verbreitung der Informationen mangelt es allerdings in vielen Fällen an der gebotenen Sorgfaltspflicht. Nach den Greueltaten von Butscha gab es auf Twitter und Telegram etliche Vorverurteilungen möglicher Täter mit Namensnennung, wurden Einheiten und deren Befehlshaber beschuldigt: tschetschenische Söldner, die Wagner-Gruppe, eine motorisierte Schützenbrigade, eine Brigade des Garde-Luftsturm-Regiments. Endgültige Beweise für die Täterschaft gibt es bisher nicht, schon gar keine Beweiskette, die direkt in die russische Regierung führen könnte – eine Notwendigkeit, wenn man Präsident Putin selbst anklagen will. Der Vertreter von HRW für Europa und Zentralasien, Hugh Williamson, sagte in einem Interview, es könne fünf bis zehn Jahre dauern, bis genügend Beweise für eine Anklage gesammelt seien.
Was kann die EU tun? Zur Verfolgung russischer Kriegsverbrechen in Ukraine soll die EU-Justizbehörde Eurojust neue Befugnisse bekommen, die es ermöglichen, die Daten der EU-Agenturen sowie internationaler Behörden und zivilgesellschaftlicher Organisationen zentral zu sichern. Österreich unterstützt sowohl die Ukraine bei der Verfolgung von Kriegsverbrechern durch die Einrichtung einer eigenen Kontaktstelle bei Eurojust als auch die internationalen Bemühungen durch die Entsendung einer zusätzlichen Expertin zum Internationalem Strafgerichtshof in Den Haag. Alleine in der Region Kiew sind laut Wenediktowa seit dem Abzug der russischen Truppen insgesamt 1222 Tote gefunden worden (Stand 10.4.). In den Orten Irpin, Butscha und Hostomel tauchten auch nach Tagen noch neue Massengräber und Folterkeller auf. Leichen wurden dort schließlich auch in der Kanalisation, in Gräben und in Brunnenschächten gefunden.
Butscha: Russische Truppen kontrollierten die 27 000 Einwohner*innen große Stadt 25 Kilometer nordwestlich von Kiew rund einen Monat lang. Seit ihrem Abzug kursieren Bilder, Videos und Berichte eines mutmaßlichen Massakers. Die ukrainischen Behörden geben an, es seien mehr als 400 getötete Zivilist*innen gefunden worden, darunter ganze Familien. Alle sollen von russischen Streitkräften erschossen worden sein. Dutzende Leichen seien in Massengräbern verscharrt worden. Mehrere von ihnen seien mit gefesselten Händen vorgefunden worden. Journalist*innen vor Ort berichteten von zahlreichen Leichen auf den Straßen. Ihre Berichte sowie auch Fotos zeigen, wie Menschen beim Fahrradfahren oder Milchholen erschossen wurden. Die Menschen seien ohne Provokation oder Gegenwehr getötet worden. Human Rights Watch hat einen Bericht veröffentlicht, der sich auf Augenzeugenberichte bezieht. Darin werden regelrechte Hinrichtungen geschildert. Als wir bei der orthodoxen Kirche in Butscha stehen, erzählt uns der Priester seine Eindrücke, drinnen gibt es jetzt eine Ausstellung, wir zünden eine Kerze an. Ratlosigkeit in den Gesichtern unserer Delegation macht sich ob des Massakers hier breit. Die meisten Bilder von dort möchte ich nicht ungeschützt posten.
Borodjanka: Borodjanka liegt 35 Kilometer nordwestlich von Kiew. Während der russischen Versuche, die ukrainische Hauptstadt westlich zu umgehen und so den Belagerungsring zu schließen, war der Ort schwer umkämpft. Zwischenzeitlich lag die Ortschaft dann aber mitten im Gebiet, das von der russischen Armee gehalten wurde – mit massiver russischer Präsenz. Geschätzt wird, dass in dem relativ kleinen Gebiet von der Grenze zu Belarus bis in die Außenbezirke Kiews bis zu 40 000 russische Soldaten stationiert waren. Wenediktowa bestätigt, dass die schlimmste Lage mit zivilen Opfern es (bisher) vermutlich in Borodjanka gibt. Der Bürgermeister sieht erschöpft aus, als er uns erzählt, wie Schule, Spital, Kindergarten und die gesamte Infrastruktur zerstört wurde, die Bewohner*innen hier aus Angst erstarrt waren, Kinder verstummten. Präsident Selenski hat bei einem ersten Besuch in Butscha gesagt, die ukrainischen Behörden hätten Informationen darüber, dass die Zahl der Opfer in Borodjanka und anderen befreiten Städten um ein Vielfaches höher sei. Konkret nannte er neben Borodjanka weitere Gebiete um Kiew, das Umland um die Stadt Tschernihiw im Norden der Ukraine, sowie die Region Sumy im Nordosten. Die Okkupanten hätten dort Dinge getan, die die dortige Bevölkerung während der Nazi-Okkupation nicht erlebt hätte. Wenn man sich hier umschaut und die Zerstörung sieht, wird diese Brutalität spürbar. Man möchte gar nicht daran denken, was die Betroffenen tatsächlich gefühlt haben. Trotzdem und bis heute: Russland weist alle Vorwürfe von sich und dementiert weiterhin diese Kriegsverbrechen. Umso wichtiger sind Augenzeugen, Berichte jener, die überlebt haben und Aufnahmen, die das bestätigen.
No Comments