Selbstbestimmung in Krisenzeiten sichern
Über den Tellerrand heute zum Thema Backlash für Frauenrechte weltweit: Die Berichte aus China über Gewaltanstieg bereits am Beginn der Ausgangssperren ließen Böses erahnen. Nach dem globalen Lockdown sind die Befürchtungen auch im Rest der Welt eingetreten. Aus allen Ländern werden vermehrt Gewalttaten und –androhungen gegen Frauen gemeldet. Frauenberatungsstellen, Vereine und NGOs haben es vorausgesehen und seit Wochen davor gewarnt: Die Bewegungseinschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus erhöhen die Gefahr häuslicher Gewalt. Mittlerweile haben sich höchste Stellen wie der Europarat und das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) der Sache angenommen und fordern von der Politik entsprechende Maßnahmen, um diese Entwicklung zu unterbinden. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres hat dazu aufgerufen, vehementer gegen häusliche Gewalt vorzugehen: „Viele Frauen und Mädchen sind dort am meisten bedroht, wo sie am sichersten sein sollten: bei sich zuhause.“
Die internationalen Aufrufe zeigen: Gewalt gegen Frauen ist ein globales Problem, es trifft Frauen aus dem Globalen Süden und der nördlichen Hemisphäre gleichermaßen. Und es betrifft alle sozialen Schichten, wie jede Expertin bestätigen wird. Es ist eine Mär, dass das Phänomen ein Problem bestimmter Gruppen wäre. Häusliche Gewalt war natürlich schon immer da, aber in Zeiten von Corona ist alles verschärft: Die Tür nach draußen bleibt geschlossen, der Partner sitzt zu Hause – womöglich ohne Arbeit, dafür mit Aggressionen. Die „Schlupflöcher“ für betroffene Frauen wie Treffen mit Freundinnen, oder der Gang zu Ärzt*innen haben sich mit dem Lockdown drastisch minimiert. Damit schließen sich oft die Zeitfenster, in denen Betroffene Hilfe holen können.
Es ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, hier hellhörig zu sein. Niemand sollte eine falsche Scheu davor haben, bei Anzeichen von Gewalt die Polizei zu rufen und sich an eine Beratungsstelle zu wenden. Ein Leben ohne Gewalt ist ein Menschenrecht: Wir dürfen nicht zulassen, dass wir durch die Krise vermehrt in frauenfeindliche Zustände abgleiten, wie sie etwa aktuell in Russland zutage treten. Dort sorgt der Primat des Patriarchats offenbar auch bei Frauen selbst für gehörige Gehirnwäschen. In einem Akt antisolidarischer Schuldumkehr schob die von der russischen Ausgabe von Glamour gekürte Frau des Jahres 2019, die Sängerin Regina Todorenko, Frauen pauschal eine Mitverantwortung für erlittenes Unrecht zu: „Irgendwann sollte doch ein kritischer Punkt kommen, um zu fragen: Warum schlägt er dich?“, fragte sie in einem Interview, wofür ihr Zurecht der von der Zeitschrift verliehene Titel aberkannt wurde. International für Entsetzen sorgte bereits 2017 ein neues Gesetz, das Schläge in der Partnerschaft entkriminalisiert: Die ersten Prügelattacken gelten als Ordnungswidrigkeit und werden nur mit Geldstrafen geahndet. Erst Wiederholungstäter müssen sich nach dem Strafrecht verantworten. Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche betonten kürzlich, dass Partnerinnen zur Konfliktvermeidung in einer Beziehung gehorsam sein müssten. „Für den Anfang sollen sie aufhören, Bemerkungen zu machen“, hieß es in einer offiziellen (sic!) Stellungnahme. Frauen sollten sich selbst beobachten und „kleine Strafen“ gegen sich selbst verhängen: Sie konnten sich zum Beispiel als Buße zehn Mal verneigen, einen Tag lang auf Schokolade oder auf das Internet verzichten.
Auch der Umgang in der Türkei mit Gewalt an Frauen bietet Grund zur Sorge: Schon vor der Corona-Krise wurden hier jährlich Hunderte Frauen ermordet. Seit Februar 2015 wurden laut der zivilgesellschaftlichen Initiative «Wir werden Frauenmorde stoppen» fast 2000 Frauen umgebracht. Allein im Jahr 2019 fielen 474 Frauen tödlichen Übergriffen zum Opfer. Dabei gäbe es in der Türkei die nötigen rechtlichen Mittel, um gegen diese Gewaltexzesse vorzugehen. 2012 ratifizierte sie als erstes Land der Welt das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, auch bekannt als Istanbul-Konvention. Doch die gesellschaftliche Einstellung hat sich nicht geändert, in der Praxis kommen die Rechtsnormen nicht zur Abwendung. Seit Jahren drängt die AKP-Regierung Frauen dazu, mindestens drei Kinder zu gebären. Das türkische Religionsministerium Diyanet rät Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, «Ruhe zu bewahren», den Täter zu besänftigen statt die Polizei zu rufen. Die Situation aktuell ist unerträglich, berichten NGO‘s.
Alles in allem: Die UNO sieht „katastrophale Auswirkungen“ auf Frauen weltweit durch die Pandemie. Die Ausgangsbeschränkungen könnten nach Ansicht der Vereinten Nationen zu sieben Millionen nicht geplanten Schwangerschaften führen, weil aufgrund von unterbrochenen Lieferketten rund 47 Millionen Frauen in ärmeren Ländern keinen Zugang zu Verhütungsmitteln mehr haben. Der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) erwartet neben der starken Zunahme von Gewalt gegen Frauen auch viel mehr Fälle von Verheiratung von jungen Mädchen. Die EU-Mitgliedsstaaten sollen den Kampf gegen häusliche Gewalt verstärken und Frauenrechte besser schützen. Darauf pochen die EU-Agentur für Grundrechte (FRA) und das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE).
Es ist längst Zeit diese Pandemie genauso ernst zu nehmen wie das Virus und mit vereinten Kräften dagegen vorzugehen. Unser Ziel muss die Selbstbestimmung fern von Unterdrückung und Gewalt für alle Frauen sein, weltweit.
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