Der Kampf um Demokratie am Höhepunkt oder am Sonntag finden in Ungarn Parlamentswahlen statt und ich schaue Viktor auf die Finger und hoffe auf eine Revolution

Erstmals seit 12 Jahren liegt es im Bereich des Möglichen, dass Victor Orbán, der mit autoritärer Schlagseite ausgestattete rechtskonservative Ministerpräsidenten und Chef der Partei Fidesz, sein Amt abgeben muss. Zugegeben, es ist Wunschdenken, aber dieses Szenario ist zumindest denkbar geworden, weil es die Opposition diesmal geschafft hat, ein breites Bündnis namens „Egységben Magyarországért“ (Einheit für Ungarn) gegen den Amtsinhaber in Stellung zu bringen. Es ist eine Koalition widersprüchlichster Partner*innen von links bis rechts: In der Anti-Orbán-Allianz haben sich Grüne, Sozialdemokraten, Rechtsextreme, Liberale und Konservative zusammengeschlossen. Ihr einziges gemeinsames Ziel, wie auch das ihres Kandidaten Peter Marki-Zay: Die Herstellung der Demokratie – es ist vielleicht die letzte Chance dafür.

Fakt ist: Orbán’s Politik hat die liberale Demokratie zu einem Feindbild erklärt. Sie ist darauf ausgerichtet, die Fundamente der Europäischen Union wie Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit, Freiheit der Lehre und Minderheiten,- wie Menschenrechte

zu untergraben. Stattdessen wird, basierend auf einem autoritären Staatsverständnis, die nationale Souveränität betont und ein traditionelles, ultra-christliches Weltbild mitsamt völkischer Ideologie transportiert. Das Absurde an der Situation ist, dass Orbán sein EU-feindliches System ausgerechnet mithilfe der EU am Leben erhält: EU-finanzierte Projekte werden an Günstlinge in seinem Umfeld übergeben. Im Laufe der Jahre ist so ein korruptes Netzwerk, gestützt durch Oligarchen entstanden, welches das ganze Land durchzieht. Versuche der EU deren Machenschaften ein Ende zu bereiten, werden vereitelt. So wie Polen verweigert auch Ungarn – beide zählen zu den größten Nettoempfängern in der EU – bspw. die Teilnahme an einer europäischen Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Korruption. Beide Länder kämpfen auch gegen den Rechtsstaatsmechanismus der EU, der es der Kommission erlaubt, Fördergelder zurückzuhalten, wenn Rechtsstaatsprobleme im Empfängerland die ordnungsgemäße Verwendung der Mittel gefährden. Gegen beide Länder laufen auch zig Artikel-7-Verfahren wegen Gefährdung des Rechtsstaats und europäischer Werte.

Eben wegen der zweifelhaften Verfasstheit der ungarischen Demokratie, wegen der auch Unregelmäßigkeiten bei der Parlamentswahl in Ungarn befürchtet werden, schickt die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) erstmals ein Wahlbeobachter*innenteam nach Ungarn. Mehr als 100 OSZE-Wahlbeobachter*innen, von denen auch ich eine bin, sollen den Urnengang beobachten. Dieses Unterfangen ist umso wichtiger, als auch Institutionen wie die ultrakonservative polnisch-reaktionär-katholische Organisation und Denkfabrik OrdoIuris für ihre geistigen Verbündeten in Ungarn ausrücken, um „Wahlbeobachtung“ zu betreiben und dabei versuchen, den prüfenden Blick der OSZE schlechtzureden. Zu Wahlen, die in EU-Staaten stattfinden, schickt die OSZE üblicherweise nur kleine Teams aus rund einem Dutzend Beobachter*innen. In Ungarn jedoch hatte ein Bündnis aus 20 NGOs die Entsendung einer vollständigen OSZE-Beobachtermission gefordert. Nach den Wahlen 2018 hatte die OSZE erklärt, aufgrund der Dominanz der Fidesz in den Bereichen der Medienwelt und der intransparenten Wahlkampffinanzierung seien die Wahlen zwar (recht) frei, aber (sicherlich) nicht fair.

Gerade die Medienfreiheit ist ein besonders heikler Punkt. Journalistenverbände berichten, dass 80% der ungarischen Medien in den Händen von regierungstreuen Besitzer*innen sind. Dutzende Regionalmedien drucken seither die gleichen Aufmacher. Radiostationen senden ellenlange Interviews mit Orbán ohne kritische Nachfragen. Fidesz Kritiker*innen stehen auf einer „schwarzen Liste“ und werden schlicht ausgeladen. Linksliberale Zeitungen wurden gekauft, nur um sie dann umgehend einzustellen. Onlinemedien wurden von Handlangern der Regierungspartei Fidesz übernommen, die Inhalte auf Linientreue getrimmt. Eine weitere Frage ist auch, wie der Wahlgang an sich ablaufen wird. Über ein neues „Wohnsitzgesetz“ lässt eine vielfache Abgabe von Stimmen möglich werden. Kritiker*innen schlagen Alarm, da das Gesetz die Einrichtung fiktiver Adressen legalisiert und daher einen „Wahltourismus“ auslösen kann.

Ausgerechnet der Krieg in Ukraine beflügelt nun Orbán’s Wahlkampagne und erhöht dessen Chancen auf einen Sieg. Seit Ende Februar hat sich der Vorsprung von Fidesz in Umfragen gegenüber dem Oppositionsbündnis vergrößert. Mit der Verkündung einer „strategischen Ruhe“ will Orbán Ungarn aus dem Krieg heraushalten. Das bringt ihm offenbar Wähler*innenstimmen. Zur „strategischen Ruhe“ gehört auch das Verbot der Lieferung ungarischer Waffen und der Transport von Waffen für Ukraine durch ungarisches Territorium. Die bisherigen 5 Feindbilder der Fidesz (Soros, Brüssel, LGBTIQ, Flüchtlinge, Kommunisten) wurden zum Teil abgelöst: Weil Orbán seine Nähe zu Putin verdecken möchte, setzt er jetzt auf „Peace & Security“ für Ungarn. Zugleich stellt Fidesz die oppositionelle Allianz als Kriegstreiber dar, die Ungarn in den Konflikt in der Nachbarschaft hineinziehen wolle. Frieden und Sicherheit könnten daher nur von Fidesz gewährleistet werden, heißt es. Der Spitzenkandidat der Opposition, der parteilose Konservative Peter Marki-Zay, sagt dagegen, die Ungar*innen müssten spätestens jetzt „zwischen dem Osten und Europa wählen“.

Tatsächlich folgt Orbán’s Modell der „illiberalen Demokratie“ über weite Strecken dem Drehbuch von Putins „gelenkter Demokratie“ inklusive Übernahme autoritärer russischer Machttechniken wie z.B. die Hetze gegen homosexuelle Menschen oder Minderheiten. Gleichzeitig mit der Wahl am Sonntag findet so auch ein LGBTIQ-feindliches Referendum statt, wo über Sexualkunde an Schulen abgestimmt wird – reine Stimmungsmache. Fest steht: Diese Wahl wird auch das künftige Verhältnis Ungarns zur EU enorm bestimmen. Bleibt Orbán, dann wird er seine Obstruktionspolitik weiterführen, schätzt man auch in Brüssel. Gewinnt Márki-Zay, dann könnte aus europäischer Sicht auch Bewegung in die umstrittene Migrationspolitik und in den Streit um die Einhaltung rechtsstaatlicher Normen kommen. Das Land würde jedenfalls endlich aufatmen. Im Moment und kurz vor dem Urnengang ist jedenfalls die Stimmung angespannt – möge sie nicht eskalieren.