Der Weltflüchtlingstag 2022 zeigt uns ein erschreckendes Ausmaß von Flucht, Vertreibung und Existenznot auf – noch können wir etwas tun.

So gravierend wie gegenwärtig waren die Zahlen der Vertreibung noch nie: 100 Millionen Menschen sind zurzeit auf der Flucht, davon 36,5 Millionen Kinder. Sie flüchten vor Kriegen,

Umweltkatastrophen, Krisen und Gewalt, vor Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen. Allein der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat eine der größten Vertreibungskrisen nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Rund 14 Millionen Menschen sind innerhalb der Ukraine und über die Landesgrenzen hinweg zur Flucht gezwungen worden. An der polnisch-belarussischen Grenze spielt sich weiter ein menschliches Drama ab – viele Menschen wurden in geschlossene Lager gesteckt und Europa steckt den Kopf in den Sand. Ganz zu schweigen von den vielen Toten im Mittelmeer, in den Wüsten, den gefängnissartigen Arealen an den EU-Außengrenzen oder der Situation in Libyen, wo Menschen behandelt werden, als wären sie wertlos und ohne jede Würde. Fakt ist: In den vergangenen Jahren haben sich die Flüchtlingszahlen im Zehnjahresvergleich verdoppelt.

Aber nicht nur Krieg vertreibt Menschen aus ihrer Lebensumgebung und Region. Was im Moment in der breiten Öffentlichkeit noch vollkommen ausgeblendet wird, ist der enorme Flucht-Motor, den Klimakrisen und klimabedingte Katastrophen immer mehr und immer schneller mit sich bringen. Die sogenannte Klimamigration ist längst Fakt und wird in den nächsten Jahren enorm an Bedeutung zunehmen. Gegen den Ressourcenverbrauch und die Erderwärmung dringend Maßnahmen zu setzen, ist also nicht nur bloß eine ökologische Frage, sondern eine Frage von Flucht, Vertreibung und Überleben. Keine Mauer und kein Zaun kann Menschen aufhalten, wenn sie um ihr Leben kämpfen. Wir sollten all das endlich anerkennen, statt naive Stoppschild-Politik zu betreiben. Der Ruf nach der „Sicherung“ der Außengrenzen führt z.B., wie wir seit langem zu deutlich in Griechenland und Türkei oder am Balkan sehen, zu systematischen „push-backs“, das heißt zu menschenrechtswidrigen Abschirmungs- und teilweise lebensgefährlichen Rückschiebeaktionen. Jüngste Erkenntnisse von Human Rights Watch belegen, dass Griechenland diese push-backs zum Teil von Flüchtlingen selbst durchführen lässt, die dafür Papiere in Aussicht gestellt bekommen. Ist das unsere Antwort auf all das Leid? Die Menschenrechte über Bord werfen?

Gerade heute müssen wir deshalb darauf pochen: System Change, Not Climate Change. Frieden und internationale Vereinbarungen im Sinne des Völkerrechts statt Kriegstreiberei und Aufrüstung. Einsatz für Demokratie statt das Stützen von korrupten Regierungen weltweit, damit sie uns nicht erpressen können und vermeintlich Menschen von Europa fern halten. Fakt ist: Wir brauchen dringend einen funktionierenden globalen, solidarischen Ansatz, damit Menschen nicht erst zur Flucht gezwungen werden. Wir müssen mit aller Kraft die Klimakatastrophe abzuwenden versuchen, wie jegliche kriegerische Konflikte nach Möglichkeit unterbinden. Wir brauchen Bildung, Aufklärung und Arbeit. Wir müssen Perspektiven für die Menschen in bedrohten Regionen schaffen, statt diese weiter um jeden Preis auszubeuten, weil ohne Ressourcen zum Leben gibt es schlicht kein Leben.

Zum Weltflüchtlingstag 2022 wünsche ich mir ein radikales Umdenken. Zumindest ein Anerkennen, dass jeder Mensch ein Mensch ist. Dass jeder Mensch das Recht auf ein würdevolles Leben hat und vor allem: Dass Flucht kein Verbrechen ist und Flüchtlinge deshalb immer zuerst Schutzsuchende sind, denen gegenüber gerade wir in der westlichen Welt eine Verantwortung haben, weil wir uns oft an der Zerstörung ihrer Lebenswelten beteiligen & oftmals gar bereichern. In diesem Sinne: Menschen in Gefahr einen Schutz zu gewähren ist nicht nur eine rechtliche, sondern auch unsere menschliche Pflicht. Das einzige, das uns von diesen Menschen unterscheidet, ist das reine Privileg des Geburtsortes.