Seit Monaten steigen in Indien  Bauern & Bäuerinnen auf die Barrikaden. Sie werden von dort auch nicht so schnell herunterkommen, denn sie kämpfen um ihre schiere Existenz. Nachdem sich selbst Greta Thunberg mit den Protesten solidarisiert hat, ist es Zeit hier „Über den Tellerrand“ zu blicken:

Eine tiefgreifende Agrarreform der hindunationalistischen Regierung droht den Bäuer*innen jedwede Lebensgrundlage zu entziehen. 40 Gewerkschaften haben recht schnell eine halbe Million Menschen mobilisiert, Millionen Menschen gehen seit dem unermüdlich auf die Straßen. Umso verwunderlicher ist es, dass diese Proteste der Verzweiflung in Europa  über weite Strecken unbeachtet bleiben. Die demonstrierenden Kleinbäuer*innen befürchten, dass nach einer Öffnung der Agrarmärkte für Private im nächsten Schritt die staatlichen Märkte und damit der Mindestpreis abgeschafft würde. Dass Indiens Landwirtschaft überhaupt staatlich reguliert ist, hat mit der Angst vor Hungersnöten zu tun. Unter britischer Herrschaft kam es zu mehreren Hungerkatastrophen. So verhungerten 1943 allein in Bengalen zwischen zwei und drei Millionen Menschen. 1947 erlangte Indien die Unabhängigkeit. Der neue Staat wollte fähig sein, seine Bevölkerung zu ernähren, und eine industrialisierte Landwirtschaft sollte dabei helfen. In den 1970er Jahren rief Indien daher die „Grüne Revolution“ aus, d.h. es setzte auf neu gezüchtete Getreidesorten. Zusammen mit neuartigem Dünger und Pestiziden sollte der Ertrag radikal gesteigert werden. Um den Bauer*innen den Anbau dieser neuen Sorten schmackhaft zu machen, lockte man sie mit einem Mindestabnahmepreis, zu dem die Regierung bereit war, die Erträge auf staatlichen Märkten abzukaufen. Die «Grüne Revolution» galt lange als Erfolg – der Punjab und Haryana wurden zu Kornkammern Indiens. Dass der Einsatz von Pestiziden sowohl Bauer*innen als auch Böden geschadet hat und die Monokultur das Land ausgelaugt hat – die „Grüne Revolution“ aus heutiger Sicht also alles andere als grün war, ist Fakt.

Indiens Regierung argumentiert, die Öffnung des stark regulierten Landwirtschaftssektors für große Supermarktketten und andere private Unternehmen würde vor allem Indiens 150 Millionen Bäuer*innen und ihren Familien zugutekommen. Statt ihre Ernte über Mittelsmänner auf den Markt zu bringen, könnten die Bäuer*innen direkt mit den großen Firmen Preise aushandeln. Weit gefehlt, so die Einschätzung: Auch wenn die korruptionsanfällige Staatswirtschaft nicht das Gelbe vom Ei ist, kann das Heil aber auch nicht in einer weitgehenden Liberalisierung gesucht werden. Das zeigt nämlich die Entwicklung im indischen Bundesstaat Bihar, wo eine ähnliche Reform bereits durchgezogen wurde. Die privaten Investoren kamen nicht, weil es so viele Kleinbäuer*innen gibt, dass erst gar kein Unternehmen mit jedem einzelnen verhandeln wollte. Theoretisch können Bihars Bäuer*innen nun zwar verkaufen, an wen sie wollen, tatsächlich aber sind sie wenigen privaten Händlern ausgeliefert, die viel weniger bezahlen als den einstigen Mindestpreis. Das ließ die ohnehin schon nicht geringe Armut in der Region weiter ansteigen. Gegner*innen der Reform kritisieren zu Recht, dass von dieser in erster Linie einige wenige Großkonzerne und private Händler profitieren würden, die der Regierung nahe,- oder unter der Kontrolle einflussreicher Familien stehen.

Sorge bereitet unterdessen auch, dass die Art, wie die Regierung der bevölkerungsreichsten Demokratie der Welt mit den zunächst friedlich Demonstrierenden umgeht alles andere als demokratisch anmutet. Die um ihre Existenz bangenden Bäuer*innen werden von der Regierung als Kriminelle und Gegner*innen Indiens diffamiert. Nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Polarisierung in dem Konflikt, haben die Proteste mittlerweile auch eine gewaltsame Wendung erfahren. Die Zahl der bei Zusammenstößen zwischen der Polizei und den getöteten Bäuer*innen steigt stetig. Bisherige Vermittlungsgespräche verliefen im Sand, ein Lösung der Pattsituation ist nicht in Sicht. Zuletzt blockierten die Bauer*innen Autobahnen, um gegen die Gesetze zur Deregulierung der Landwirtschaft zu protestieren. Die Landwirtschaft trägt rund 15 % zur indischen Wirtschaftsleistung bei und ist Lebensgrundlage für rund 60 % der 1,3 Milliarden Einwohner*innen des Landes. Vor diesem Hintergrund wird klar, um was es geht: Keine Nahrung, keine Zukunft.