Serê Kaniyê (Kurdisch) bzw. Raʾs al-ʿAin (Arabisch), war eine der vielfältigsten Städte in Nordostsyrien. Gegründet von Tschetschenen, die im 19. Jahrhundert vor der russischen Expansion im Kaukasus flohen, leben hier neben einer kurdischen Mehrheit auch Araber*innen, Tschetschen*innen, Armenier*innen und aramäischsprachige Christ*innen. Aus den jesidischen Dörfern der Umgebung stammten auch kurdischsprachige Jesidi, die etwa 5% der Bevölkerung ausmachten. Mit der Invasion der türkischen Armee und der mit dieser verbündeten islamistischen Milizen im Oktober 2019 verloren nicht nur die Christ*innen und Jesidi, sondern auch die meisten kurdischen und viele arabische Muslim*innen ihre Heimat. Die meisten von ihnen leben nun als Vertriebene in anderen Teilen der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Das größte dieser Camps, ist das Camp Washukanni – benannt nach einer der beiden Hauptstädte des Reiches von Mitanni vom 15. bis zum 13. Jhdt v.Chr., die hier in der Region lag.

Kurz vor Weihnachten konnte ich mit Reinhold Lopatka (ÖVP) und dem Politikwissenschafter Thomas Schmidinger dieses Camp besuchen, in dem Muslim*innen, Christ*innen und Jesidi aus Serê Kaniyê zusammen leben. Internationale Unterstützung für das Camp gibt es bis auf einige kleine NGOs nicht. Trotzdem gelang es der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien ein Camp aufzubauen, das definitiv besser organisiert ist und über eine bessere Infrastruktur verfügt als die Camps an der EU-Außengrenze, die ich kenne. Im Vergleich zu Kara Tepe, ist Washukanni ein Vorzeigecamp! Dazu trägt sicherlich auch bei, dass die Flüchtlinge selbst das Camp verwalten und dort die gleichen Selbstverwaltungsstrukturen aufgebaut haben, wie sie überall in der Selbstverwaltung existieren. 13.000 Personen, davon 2.900 Familien finden in dem Camp Zuflucht. Man versucht sich hier mit den geringsten Mittel einzurichten. Die Perspektive, bald in die Dörfer und Städte zurückzukehren, ist weiter gering. Auch hier ist die Sorge über einen erneuten Angriff des IS oder seitens der Türkei allgegenwärtig. Mit Assad in Damaskus will sich nach den Kriegsgräueln niemand so recht arrangieren – all das hat zur Folge, dass internationale Hilfe hier im Gegensatz zu den Camps Roj und Al Hol, wo sich IS-Anhänger*innen befinden, zur Gänze fehlt bzw. gar nicht erst ankommt. Hierfür eine Lösung zu finden, machen wir uns deshalb zukünftig zur Aufgabe.

Grundsätzlich ist sie Situation für religiöse Minderheiten in der Region trotz Religionsfreiheit in den selbstverwalteten Gebieten prekär. Viele der Jesidi und Christ*innen sind in den letzten Jahren ausgewandert. Die Region ist isoliert und niemand weiß, ob die Türkei und die verschiedenen jihadistischen Milizen weitere Gebiete besetzen werden und wann damit zu rechnen ist. Diese prekäre Situation wurde auch beim Besuch des Mala Ezidiya „Haus der Jesiden“ in der Region klar. Jede und jeder der dortigen Aktivist*innen hat mehr Verwandte in Deutschland als in Syrien. Bis heute werden vom IS verschleppte jesidische Frauen und Mädchen gefunden, die mit Hilfe des Mala Ezidiya zu ihren Familien im Irak zurück gebracht werden. Von 3.000 fehlt weiterhin jede Spur. Aber auch aus der Kurdistan-Region des Irak wandern die religiösen Minderheiten ab. Zwar kehrten tausende Christ*innen und Jesidi in den letzten Jahren in jene Gebiete zurück, aus denen sie vom IS vertrieben wurden, ebenso viele verließen aber auch den Irak. Die politische Instabilität, der wieder erstarkende IS und die Auseinandersetzungen um die Zugehörigkeit der christlichen und jesidischen Gebiete zwischen den Regierungen in Erbil und Baghdad, vermitteln jedenfalls kein Gefühl der Sicherheit. Bei unserem Besuch beim wichtigsten Heiligtum der Jesidi, in Lalish, wurde im Gespräch mit den Würdenträgern deutlich, dass diese andauernden politischen Spannungen auch zu Konflikten innerhalb der jesidischen Gemeinschaft führen, wie zuletzt bei der Ernennung des neuen Baba Sheikh, des höchsten religiösen Würdenträgers dieser Religionsgemeinschaft, deutlich wurde.

Fakt ist: Sowohl Christ*innen als auch Jesidi hier wünschen sich politische Unterstützung aus Europa und Hilfe für den Wiederaufbau ihrer vom IS zerstörten Dörfer und Städte. Noch feiern die aramäischsprachigen und armenischsprachigen Christ*innen in Syrien und im Irak Weihnachten. In Ain Kawa, der christlichen Stadt bei Erbil, könnten wir festlich geschmückte Kirchen der verschiedenen Konfessionen des Irak sehen. Viele befinden sich hier aber nur auf der Durchreise. Aus Baghdad haben sich seit 2003 viele Christ*innen in das sicherere Kurdistan zurückgezogen. Ob sie auch hier bleiben, ist ungewiss. Für viele ist Europa das Ziel. Auch wenn die meisten in Frieden in ihrer Region leben und diese aufbauen wollen würden. Einmal mehr hat uns diese Reise gezeigt, wie eng die Frage der Flucht mit der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung verbunden ist. Schließlich kommt „Flucht“ von Verfolgung. Ich habe jedenfalls zahlreiche Anregungen und Ideen für die politische, parlamentarische und die Arbeit in internationalen Gremien im Neuen Jahr 2021 mitgenommen. Bevor ich mich nach meinem Weihnachtsurlaub all dem widme, verabschiede ich mich wie jedes Jahr in eine 14-tägige Social Media Pause. Einstweilen: Bleibt aufmerksam & gesund!