Über den Tellerrand Türkei
Die Türkei zeigt sich europäisch und von der besten Seite, während wir diverse politische Termine in der Hauptstadt Ankara absolvieren. Dazu gehört u.a. ein Treffen mit der Abg. Fatih Toprak und Mitgliedern der türk.-öster. Freundschaftsgruppe, ein Treffen mit Parlamentspräsidenten Prof. Dr. Mustafa Şentop, ein Treffen mit Mehmet Kasım Gülpinar, Vorsitzender EU-Harmonisierungsausschuss, İsmail Emrah Karayel, Vorsitzender EU-Türkei-Ausschuss oder ein Treffen mit Vizeaußenminister Bot. Faruk Kaymakcı. Die Treffen mit der Opposition u.a. mit Dr. Sibel Özdemir oder Kadri Enis Berberoglu von der CHP zeichnen ein differenziertes Bild. Es ist Zeit für ein ÜberDenTellerrand.
Türkei befindet sich in einer höchst komplexen Lage. Betrachtet man die wirtschaftliche Situation und damit verknüpft auch die Zustimmungswerte des Präsidenten Erdoğan, so muss man von einer veritablen Krise sprechen. Die Inflation galoppiert davon, der Anstieg der Konsumentenpreise wird binnen 12 Monaten auf 156% beziffert. Gleichzeitig erfährt das Land einen Bedeutungsgewinn auf geostrategischer Ebene und dies nicht in einer typischen Pendelbewegung (NATO-Mitglied sein, aber russische Luftabwehrsysteme kaufen und während schwelender Konflikte ein russisches Jagdflugzeug über Syrien abschießen), sondern wirklich gleichzeitig von allen Seiten als zentraler Player anerkannt zu werden. Dies zeigt sich u.a.:
• in der Vermittlerposition zwischen Russland und der Ukraine
• in der sehr verhaltenen Kritik an den militärischen Aktionen gegen PKK bzw. mehr oder weniger PKK nahe Gruppen (und indirekt auch gegen die Bevölkerung) in Nordsyrien und im Nordirak
• durch die Rolle als Aufnahme- bzw. Transitland für Geflüchtete insbesondere aus Syrien (offiziell 3,7 Millionen)
• als Player im Südkaukasus bzw. als Unterstützerin und Rüstungslieferantin von Aserbaidschan im vergangenen Krieg bzw. im schwelenden Konflikt mit Armenien
• in der Wiederannäherung an Saudi Arabien
• durch eine sehr aktive Afrikapolitik mit wichtigen Beziehungen zu Angola, Nigeria oder z.B. auch einer Militärbasis in Somalia
• im offenen Selbstbewusstsein der Türkei nach innen mit aller Härte gegen Kritiker*innen vorzugehen und das Land immer weiter in eine autoritäre Regierungsform zu treiben, ohne allzu große Kritik oder gar Sanktionen aus dem „Westen“ erwarten zu müssen
• aktuell beim Blockieren bei der Aufnahme von Finnland/ chweden in die NATO.
Nächstes Jahr stehen Wahlen an und die Marschrichtung hat Erdoğan bereits klar vorgegeben: Vor 3 Wochen wurde der Unternehmer und Menschenrechtsaktivist Osman Kavala der bereits seit 4 Jahren im Gefängnis sitzt zu lebenslanger Haft unter verschärften Bedingungen verurteilt. Auch die 7 Mitangeklagten wurden verurteilt und sollen für zumindest 18 Jahre weggesperrt werden. Während wir hier auf Besuch sind, wird die Co-Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP Canan Kaftancıoğlu u.a. wegen „Beleidigung des Präsidenten“ vom Obersten Gericht zu knapp 5 Jahren Gefängnis verurteilt. Das bedeutet, die erfolgreiche Politikerin ist für die anstehenden Wahlen faktisch „weg von Fenster“. Es kommt zu Protesten, die Stimmung ist bedrückt, nur: Die internationalen Reaktionen waren und sind zwar heftig, doch steckt die europäische Außenpolitik in der Bredouille: In einem Moment, in dem die Türkei wegen der Konfrontation mit Russland weiter an geopolitischer Bedeutung gewinnt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass trotz aller Empörung die Abwägungen schlussendlich doch wieder für Ankara ausfallen. Fakt ist: Die Türkei sitzt nicht nur in vielen für Europa essentiellen geostrategischen Problemstellungen mit am Verhandlungstisch, sondern ist v.a. hinsichtlich der Vermittlungsbemühungen zwischen Russland und Ukraine machtbewusste Akteurin.
Was sagt Österreich zu all dem? Nach zahlreichen Verwerfungen in den letzten Jahren wird es nach über neun Jahren (!) Ende Juni ein Treffen von Kanzler Nehammer mit Präsident Erdoğan geben. Dies wird in Anbetracht der Rolle der Türkei als Fortschritt im Sinne einer interessensgeleiteten Außenpolitik verstanden. Ich für meinen Teil finde – und das ist bei allen Treffen Thema Nummer 1 – dass wir über den Beitritt des Landes zur EU wieder ernsthaft verhandeln müssen. Denn bei aller Kritik und auch wenn der diplomatische Umgang ein Balanceakt bleibt: Die realpolitische Rolle ist im Kontext der existenziellen Bedrohung der regionalen und globalen Sicherheitsarchitektur anzuerkennen. Die Zustimmung der Bevölkerung zur gemeinsamen Union liegt bei über 80% und die aktuelle politische Vertretung ist nicht in Stein gemeißelt. Gleichzeitig verlangt der jahrelange Auf- und Ausbau eines autoritären Staatsapparats eine klare Positionierung gegenüber zum Teil massiven Menschenrechtsverletzungen, des Abbaus des Rechtsstaats, der Unterdrückung von Minderheiten sowie der demokratischen Opposition, der militärischen Aktionen in Nachbarländern sowie der Bekämpfung einer freien und kritischen Presse (Platz 149 von 180 im Pressefreiheitsindex). Es braucht eine Gratwanderung, wie sie auch von der proeuropäischen Opposition in der Türkei von Europa erwartet wird. Die Türkei ist nicht gleich Erdoğan bzw. die AKP. Auch die größten Städte des Landes Ankara und Istanbul werden von CHP Bürgermeistern regiert.
Nächste Wahlen 2023 oder doch früher? Die nächste Präsidentschaftswahl findet regulär spätestens am 25. Juni 2023 gleichzeitig mit der Parlamentswahl statt. Eine Vorverlegung aus taktischen Gründen ist nicht auszuschließen, im Gegenteil. Eine Wahlrechtsänderung die Ende März beschlossen wurde, verringerte zwar die Sperrklausel von 10% auf 7%. Jedoch führt eine neue Berechnungsmethode, die bei Wahlbündnissen die jeweiligen Parteien einzeln rechnet, dazu, dass der Einzug für kleine Parteien schwerer statt leichter wird. Anfang 2022 haben sich 6 Oppositionsparteien zusammengeschlossen und die „Allianz der Nation“ begründet. Sie wollen „Erdogan ablösen und das Präsidialsystem in eine parlamentarische Demokratie zurückführen“. Tatsächlich könnte es für den aktuellen Präsidenten eng werden, sogar sehr. Ob aus der Zusammenarbeit der 6 ein echtes Bündnis wird, ist aber noch ungewiss. Die ideologischen Differenzen sind groß, das Spektrum der Allianz reicht von der bürgerlich-kemalistischen CHP über die konservativ-liberale DP und die rechts-nationalistische IYI-Partei bis zur islamistischen SP. Mit dabei sind auch 2 abtrünnige Erdogan-Weggefährten, Ex-Premier Ahmet Davutoglu und der frühere Wirtschaftsminister Ali Babacan. Nicht vertreten in der Runde ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die pro-kurdische HDP. Sie steht politisch enorm unter Druck: Das Verbotsverfahren der Partei bzw. das Politikverbot für knapp 700 (!) Funktionär*innen läuft noch immer. Seit 2015 wurden 6490 HDP-Mitglieder, darunter Co-Parteivorsitzende, Abgeordnete, Kreisvorsitzende und einfache Parteimitglieder, festgenommen und 3695 HDP-Mitglieder inhaftiert. Trotzdem wird davon ausgegangen, dass es nicht gelungen ist, die HDP entscheidend zu schwächen. Ein Verbot für die knapp 700 Funktionär*innen sich in den nächsten fünf Jahren politisch zu betätigen, würde auf den Ausschluss fast aller HDP-Politiker*innen von der Politik hinauslaufen und so die politischen Kanäle für die Diskussion und Lösung der Kurdenfrage auf Jahre verschließen. Die Verhinderung ziviler und gewaltfreier kurdischer Politik wäre erst recht Wasser auf die Mühlen der illegalen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und würde wohl den Kurdenkonflikt erneut perpetuieren. Das Verfahren wirft jedenfalls ein Schlaglicht auf die Verschränkung von Politik und Justiz und macht strukturelle Mängel der Verfassungsordnung und der Rechtsstaatlichkeit deutlich. Zu einer Entschärfung des historischen Konflikts wird es jedenfalls nicht beitragen. Im Übrigen: Der ehemalige HDP-Vorsitzende Selhattin Demirtas ist seit 2016 inhaftiert. Die Versammlung des Europarats forderte wiederholt seine Freilassung – bisher umsonst.
Alles in allem: Die politische Situation hier bleibt komplex, spannend, voller Rückschläge und Perspektiven. Die Besuche im Parlament eröffneten neue Blickwinkel, die Kontakte zu pflegen und das trotz zum Teil sehr unterschiedlicher Ansichten bleibt unsere diplomatische Aufgabe. Die Gespräche waren bei aller Klarheit und Kritik von Respekt getragen. Vielen Dank an die österreichische Botschaft in Ankara vertreten durch Botschafter Johannes Wimmer für die hervorragende Begleitung unserer Delegation!
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