Frauen, Pressefreiheit, Bildung oder in Istanbul blüht das Leben, aber gleichzeitig nimmt die Leidensfähigkeit ab. ÜberDenTellerrand Türkei Teil II.

Keine Ruhe dem Patriarchat: Den größten Verein, der sich in der Türkei gegen Gewalt an Frauen und Mädchen einsetzt, treffen wir im Hinterzimmer, die Namen der Aktivistinnen sollen wir nicht nennen – zu groß ist die Gefahr, dass sie wieder angezeigt werden. Tatsächlich passiert ihnen das immer wieder: Einmal hat sie ein „Männerrechtler“, der selbst keinen Unterhalt zahlen wollte, bei der „türkischen staatlichen App“ wo man auf Terrorismusverdacht hinweisen kann, gemeldet. Sie würden als Frauenverein Familien zerstören. Jetzt wurde ein Verfahren von der Staatsanwaltschaft gegen sie eingeleitet und die im Verein aktiven Frauen werden von den Behörden „durchleuchtet“, weil 18 Personen einen wortgleichen Antrag eingebracht haben, der Vorwurf: Sie sind eine terroristische Vereinigung, weil sie organisiert die Rechte der Männer beschneiden wollen. Das ist auch ein Signal vor der Wahl, sind sie sich sicher – seid ruhig und begehrt nicht auf. „Aber wir geben nicht auf, wer sonst zeigt das Unrecht auf?“, sagt die Obfrau. Tatsächlich veröffentlicht das türkische Innenministerium nur dann Zahlen zu Frauenmorden im Land, wenn es nicht mehr zu vertuschen geht, dass es ein Femizid war. Davon gibt es hier genug, oft werden sie als Suizide getarnt. 2021 gab es offiziell 280 Fälle plus 217 Verdachtsfälle. 2020 300 Fälle und 171 Verdachtsfälle und heuer alleine im April 24 Fälle und 16 Verdachtsfälle. Die Dunkelziffer dürfte enorm sein, der Staat schweigt dazu, Vereine wie dieser übernehmen staatliche Aufgaben und organisieren Notrufe und erste Hilfe für bedrohte Frauen oder ihre Angehörigen. Dem Verein droht die Schließung, gegen die Aktivistinnen läuft eine Social Media Kampagne, sie erhalten keine Förderung, sind auf Spenden angewiesen und machen diese Arbeit rein ehrenamtlich – meine Hochachtung!

„Die Scharia würden sie am liebsten einführen“, bringt es die resolute Rechtsanwältin, die seit den 1980er Jahren für Gleichstellung und bessere Strafgesetze kämpft, auf den Punkt. Seit Erdogan an der Macht ist, wird eine reaktionäre und frauenfeindliche Politik verfolgt – dafür nennt sie zig erschreckende Beispiele. Alleine der einseitige, rechtswidrige Ausstieg aus der „Istanbul Konvention“ ist ein herber Rückschlag für Gewaltbetroffene. Um das Aufgeben der Resolution zu verhindern, sind 1.000 Anwältinnen nach Ankara gefahren, um dagegen zu protestieren – umsonst. Gewalt gegen Frauen steigt weiter an, missbrauchte Mädchen werden schon mal verheiratet, Frauen müssen manchmal ungewollt Kinder austragen und bei Scheidungen bleiben sie oft die Schuldigen, ohne Unterhalt allein. Ja, das gibt es überall, auch mitten in Europa, aber die Zuspitzung hier macht Sorgen. Die Frauenrechtlerinnen prangern an: Das Justizsystem sei nicht nur korrupt, sondern von Männern für Männer gemacht und von der Politik unterwandert. Wieder einmal wird in den Erzählungen sichtbar: Patriarchat und radikal gedachte Religion in Kombination bedrohen jede Emanzipation, LGBTIQ und Frauenrechte. Vor nichts fürchtet sich der privilegierte Mann mehr, als vor organisierten Frauen – da gebe ich der Anwältin recht. Ob sie nicht schon genug wegen der ganzen Repression für den Kampf um Gleichstellung hat? Im Gegenteil, ihr Arzt sagt, sie soll laut sagen, was sie weiß, eine Anklage ist jetzt auch schon egal. Den Humor möchte ich haben.

Für die Freiheit denken und schreiben – unermüdlich und unbestechlich seit 1946: „Wir haben schon alles erlebt. Wir haben den Militärputsch überlebt und wir überleben jede Regierung“, sagt Turgay Olcayto, der Präsident von „Türkiye Gazeteciler Cemiyeti“, dem und ältesten unabhängigen Journalisten-Verband. An die 4.000 Mitglieder erfasst dieser, mehr als jede Gewerkschaft im Medienbereich. Einfach ist die Arbeit nicht: 90% der Medien in der Türkei werden von der Regierung kontrolliert, die anderen an den Rand gedrängt. Viele Journalist*innen im Land, die sich der Demokratie und nicht der Regierung verpflichtet fühlen, leben so an der Armutsgrenze. „Werte wie Pressefreiheit, Unabhängigkeit und Wahrheit sind uns wichtiger“, sagen sie, beeindruckend. 9.000 Menschen hat der Verband ausgebildet, er besitzt eine Bibliothek mit 30.000 Titel zum Thema Journalismus, betreut Kolleg*innen, denen aufgrund ihrer Berichterstattung Gefängnis droht. 28 sitzen da gerade ein, es gibt immer wieder physische Angriffe auf Demos, es kommt schon vor, dass Mitarbeiter*innen von Druckereien gehindert werden, in die Arbeit zu gehen, damit eine Zeitung nicht erscheint. Wer gegen die Regierung, gegen Korruption in der Politik und Wirtschaft oder über Umweltverbrechen berichtet, muss mit einer Klage rechnen. Oder zumindest Einschüchterung. Unliebsame Berichte werden gelöscht, auf Webseiten blockiert oder verunmöglicht, erzählen die Vertreter*innen. Viele weichen auf Social Media aus, YouTube wird zur Alternative, wenn Print nicht geht. In den letzten Jahren wurden von Regierungsbehörden 4.000 Presse-Ausweise gecancelt. Wenn dann jemand für seine/ihre Berichterstattung inhaftiert wird, heißt es, es sind keine Journalist*innen in Haft. Während ich zuhöre, wächst mein Respekt vor den Menschen, die hier für Meinungsfreiheit und ein Stück Wahrheit so viel bereit sind zu geben, ja, zu opfern. Solange es sie gibt, wird die Pressefreiheit auch in autokratischen Staaten nicht sterben. Danke dafür!

Den Besuch beim St. Georg College, in der Kirchenkapelle und im österreichisch-türkischen Spital möchte ich auf der Reise auch nicht missen. Der Direktor aus Vorarlberg führt uns durch die Jahrzehnte andauernde Geschichte der Schule und die ihrer Absolvent*innen. 1882 entstand neben der Kirche eine Schule für katholische deutschsprachige Kinder. Die Schwestern sind neben der Schule auch in einem Krankenhaus tätig, das als Sen Jorj Hastanesi vor allem bei der ärmeren Bevölkerungsschicht von Istanbul bekannt ist. Die Oberschwester ist die Polin Joanna, die hier mit einem Team selbst seit 18 Jahren kranke und arme Menschen oder solche ohne Dokumente versorgt. Der türkischen Direktor erklärt uns im besten Deutsch, dass hier in 10 verschiedenen Sprachen Übersetzungen angeboten wird. 15 Abteilungen und zahlreiche Fachärtz*innen hat das Spital, 70.000 Patient*innen im Jahr finden hier Hilfe. „Arbeiten muss man hart, aber dafür gibt der Ausblick auf das Meer immer Hoffnung“ sagt eine Schwester aus dem Kosovo, bevor wir das Gruppenfoto auf der Terrasse machen. Ein würdiger Abschluss einer intensiven Reise. Vieles von dem Gehörten muss weiter bearbeitet werden, einige Ideen und Konzepte kamen mit nach Wien. Danke an meine Kolleg*innen aus dem Österreichischen Parlament für die gute Zusammenarbeit in der Delegation!