Klerikalfaschismus und Kriegspropaganda oder in den letzten 24 Stunden wurden 45 Raketen aus Russland auf ukrainische Städte abgefeuert, auch das Stadtzentrum von Kiew ist betroffen. Zeit für ein sonntägliches ÜberDenTellerrand zur Rolle der Kirche in diesem Krieg.

Was viele nicht wissen: Wladimir Putin wäre ohne den Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche Kyrill ein armer Ministrant. Während Großbritannien diesen wegen Kriegspropaganda endlich auf die Sanktionsliste setzte, knickte die EU kürzlich auf Druck von Orbán ein. Die Novaya Gazeta nannte Viktor Orbán nicht umsonst einmal „Viktator Orban“. Aber was hat Kyrill auf der Sanktionsliste verloren? Er hat z.B. Putins Soldaten für den Krieg gegen Ukraine gesegnet und wiederholt antiukrainische Äußerungen gemacht, aber das ist bei Weitem nicht alles oder kurz gefasst: ohne Kyrill kein Krieg.

Das russische, orthodoxe Oberhaupt ist schon länger als ein homophober, nationalistischer und kriegstreiberischer Machtmensch bekannt. Er war mal selbst aktiv beim KGB, ist für Russlands Präsident Putin sehr wichtig bei dessen Aufstieg gewesen und ist schlicht das ideologische Unterfutter des Krieges. Dies ist für die Ukraine in mehrfacher Weise katastrophal. Einerseits, weil dadurch die Kriegsrhetorik Putins besser verfängt und die Opferbereitschaft in Russland größer ist, anderseits aber auch, weil die orthodoxe Kirche in der Ukraine selbst gespalten ist – in jene deren Oberhaupt eben Kyrill ist (Orthodoxe Kirche in der Ukraine) und jene mit eigenem Kiewer Patriarchat (Ukrainisch Orthodoxe Kirche), die sich 1992 abgespalten hat. Religiös aufgeladenes Nationalbewusstsein ist bekanntlich alles andere als harmlos. Die meisten Russ*innen (69%) halten die russische Kultur gegenüber anderen für überlegen. Mehr als drei Viertel sind stolz auf ihre religiöse Identität. Noch 1999 sah nur ein Drittel der Bevölkerung in Russland eine Supermacht, heute behaupten das drei Viertel. Bereits in den Neunzigerjahren, als das nationale Selbstbewusstsein noch gering war, sprachen sich knapp drei Viertel dafür aus, dass Russland eine Supermacht sein solle. Heute meinen dies knapp 90%. Dabei wird der russischen Nation vor allem die Funktion zugewiesen, ein Gegengewicht gegen den Einfluss des Westens zu bilden. Nach den Erhebungen des Pew Research Centers von 2017 hegen 85% der Russen und Russinnen diese Erwartung. Wenn man diese Zahlen kennt, verwundert der breite Zuspruch zum Krieg weniger.

Das Nationalgefühl profitiert von der Kirche, und die Kirche profitiert vom Staat: Die Russische Orthodoxe Kirche wird finanziell wie rechtlich gegenüber anderen Religionsgemeinschaften bevorzugt. Immer wieder ist Präsident Putin bewusst neben dem Patriarchen in Szene gesetzt worden. 2007 wurde ein neues Schulfach „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ eingeführt, das an staatlichen Schulen für alle Schüler*innen – unabhängig davon, ob sie der Kirche angehören – Pflichtfach ist. Umgekehrt ist der Patriarch ein verlässlicher Unterstützer der politischen Linie des Kremls. In einer seiner jüngsten Predigten bezeichnete Kyrill I. die Feinde Russlands als „Kräfte des Bösen“. Putin und Kyrill teilen ein ähnliches Weltbild: Russland ist das angegriffene Opfer westlicher Mächte und der Kampf Russlands ist ein Kampf des Guten gegen das Böse. Russland muss sich also schützen und für seine bedrohte Identität eintreten. Dass der Patriarch als besondere Gefahren für die russische Kultur ausgerechnet kulturellen Pluralismus, Homosexualität und Meinungsvielfalt ausmacht, ist keineswegs nur eine taktische Finte, um konservative Gläubige zu gewinnen. Homophobie, Xenophobie und Homogenitätsvorstellungen sind essenziell für die orthodox-autokratische Weltsicht. Kyrill überhöht den Angriff Russlands auf die Ukraine ins Metaphysische: Hier stehen himmlische und höllische Mächte miteinander im Kampf. Alleine die Regenbogenfahne ist Teufelszeug – so versteht man auch Putins Anti-LGBTIQ-Gesetz besser. Der Feminismus ist sowieso ein „gefährliches Phänomen“, das Frauen lediglich eine Illusion von Freiheit in Aussicht stelle.

Exkurs: Es geht bei diesem Krieg auch um andere Mächte: 2018 wurden die Ukrainische Orthodoxe Kirche (Kiewer Patriarchat) und die konkurrierende Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche gegen den Widerstand der russischen Kirche als kanonisch anerkannt und dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel unterstellt. Die größte aller Glaubensgemeinschaften in der Ukraine ist jedoch nach wie vor die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UPZ), die nicht den Patriarchen von Konstantinopel, sondern jenen von Moskau anerkennt, der – siehe oben – ein loyaler Verteidiger der Politik Putins ist. Für diese bisher gelegentlich „moskautreu“ genannte ukrainische Kirche ist die Lage besonders heikel. Ihr Oberhaupt, der Kiewer Metropolit Onufrij, beklagte am ersten Kriegstag, dass „Russland militärische Handlungen gegen die Ukraine begonnen hat“. Auch er bat die Gläubigen, „für die Ukraine, für unsere Truppen und unser Volk“ zu beten und alten Streit zu vergessen. Hinzu kommt: Dem ukrainischen Parlament liegen 2 Gesetzentwürfe vor, die auf ein landesweites Verbot der Strukturen des Moskauer Patriarchats abzielen. Wie „Die Tagespost“ berichtete, betreffen diese Entwürfe das Eigentum der „Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats“ (UOK-MP) unter Metropolit Onufrij, einschließlich dreier berühmter Klosteranlagen. Diese Gesetzentwürfe wurden in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, bereits registriert, aber noch nicht abgestimmt. Putin benutzt wenig überraschend das Narrativ von der Diskriminierung der russisch-orthodoxen Christen in der Ukraine als zusätzliche Rechtfertigung seines Angriffs.

Die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK), die vom Moskauer Patriarchat abhängig ist, vertrat schon vor Kriegsbeginn Thesen, die an Putins Narrativ erinnern. Sie sprach von der Einheit von Russen und Ukrainern, von der vermeintlich starken Präsenz von Neonazis in der Ukraine und sie ist antiwestlich eingestellt. Wenn nun die erwähnten Gesetze zu einer Beschlagnahmung der Besitztümer der moskautreuen Ukrainisch Orthodoxen Kirche führen sollten, könnte das sowohl im Land Spaltungen verschärfen und vor allem natürlich von Russland wieder als Grund gesehen werden, ihre Gläubigen zu „schützen“. Alles in allem: Es gibt immer gute Gründe die Trennung von Staat und Kirche zu forcieren. Gerade in diesem Krieg wird sichtbar, wie stark die Rolle der Religion werden kann. Am Beispiel von Kyrill sehen wir, wie schnell einer zum Kriegstreiber mit Heiligenschein werden kann, wenn Machtinteressen in den Vordergrund rücken. Kyrill, der nicht nur Putin die Stange hält, sondern auch von den Gläubigen totale Loyalität zum russischen Staat verlangt, lebt selbst im puren Luxus. 2012 wurde eine Luxus-Uhr vom Handgelenk des Patriarchen auf einem Foto wegretouchiert, auf dem Tisch war jedoch noch deren Spiegelung zu sehen gewesen. So viel zur Scheinheiligkeit.