QUO VADIS – Bürger*innenrechte
Flüchtet ein Corona-Infizierter aus seiner Quarantäne, wird er schnell wieder eingefangen. Der Staat checkt die Handydaten der letzen 14 Tage und erstellt ein Bewegungsprofil. Das passiert in Israel. Aber auch hierzulande stellen sich viele die Frage und fragen bei mir nach: Stimmt bei den Maßnahmen noch die Verhältnismäßigkeit? Wie ist es um unsere Grundrechte, Menschenrechte und die Demokratie bestellt? Eines vorweg: Die Rettung von Menschenleben rechtfertigt die drastischen Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung. Demokratie bedeutet auch, dass wir die Beschränkungen unserer Grundrechte unter bestimmten Voraussetzungen akzeptieren. Dazu ein paar Gedanken ?
Unmittelbar durch Pandemien betroffene Rechte:
➡️ Recht auf Gesundheit (Art. 12 IPwskR und Art. 35 EU-GRC)
➡️ Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 EMRK)
➡️ Verbot von unmenschlicher Behandlung (Folterverbot, Art. 3 EMRK)
Durch die COVID19-Maßnahmen darüberhinaus betroffene Grundrechte, u.a.
➡️ Recht auf Selbstbestimmung (der Lebensgestaltung; Art. 8 EMRK)
➡️ Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK)
➡️ Recht auf persönliche Freiheit (Art. 5 EMRK) und die Freizügigkeit
➡️ Grundrecht des Berufslebens
➡️ Recht auf Bildung
➡️ Unverletzlichkeit des Eigentums
➡️ Verfahrensrechte (z.B.: Recht auf ein faires, rasches Verfahren)
➡️ Recht auf informationelle Selbstbestimmung
➡️ Versammlungsfreiheit
➡️ Schutz persönlicher Daten
Absolute, eingriffs- und notstandsfeste Grundrechte sind das Verbot der Folter, der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe (Art. 3 EMRK). So dürfen wir zum Bsp. Gefangene nicht in andere Staaten ausliefern, wenn ihnen dort die Todesstrafe droht. Die im Vereinigten Königreich zuerst gewählte Strategie der Herdenimmunität zur Eindämmung von COVID19 ist mit Art. 3 EMRK nicht vereinbar, wenn sie den Tod einer großen Zahl von Menschen als Eindämmungsmaßnahme von vornherein in Kauf nimmt. Im Übrigen: Das Sklavereiverbot (Art. 4 EMRK) und das Rückwirkungsverbot (Art. 7 EMRK) gelten ebenso absolut. Ein Abweichen ist in keinem Fall gestattet.
Relative Grundrechte: Eingriffe sind erlaubt oder sogar erforderlich. Die meisten Menschenrechte (z.B. Recht auf Leben, Privatleben, Bewegungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit) sind nicht absolut, sondern können eingeschränkt werden, um andere Menschenrechte zu schützen (Einschränkung der Bewegungsfreiheit um das Recht auf Gesundheit zu schützen – Spitalsaufenthalt oder eben im Extremfall Quarantäne) bzw. die Menschenrechte anderer/die Allgemeinheit zu schützen. Die Staaten sind dabei verpflichtet, die Achtung der Grund- und Menschenrechte zu gewährleisten. Die staatliche Schutz- und Gewährleistungspflichten berechtigen einen Staat aber nicht nur, Grundfreiheiten einzuschränken, sondern erfordern das sogar. D.h. Grundrechte verlangen vom Staat konstant Abwägungen zu treffen mit dem Ziel, der größtmöglichen Freiheit, Sicherheit und Gleichheit für die Einzelnen und die Allgemeinheit zu gewährleisten. Unser Strafrecht ist ein gutes Beispiel dafür, dass Menschenrechte grundsätzlich nicht unbeschränkt gelten: Es schützt Eigentum vor Diebstahl, die körperliche Unversehrtheit und soll neben dem Schutz der/des Einzelnen auch der Generalprävention und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dienen. Wir regulieren auch den Straßenverkehr durch die Straßenverkehrsordnung und unser Gesundheitssystem ist so ausgestaltet, dass Mutter- und Kindersterblichkeit reduziert wird. Was dabei von größter Relevanz ist, ist die Verhältnismäßigkeit, die staatliche Willkür unterbindet. Die vom Staat zu ergreifenden Schutzmaßnahmen müssen deshalb:
➡️ adäquat,
➡️ zugänglich, physisch aber auch finanziell leistbar,
➡️ nicht diskriminierend (Gleichheitssatz, es gilt darauf zu achten, dass besonders vulnerable und marginalisierte Bevölkerungsgruppen nicht zusätzlich benachteiligt werden)
➡️ effektiv/wirksam,
➡️ verhältnismäßig im engeren Sinn (Maß des Erforderlichen, nicht überschießend oder zu lasch)
➡️ gesetzlich legitimiert (demokratischer Rechtsstaat!) und
➡️ verhältnismäßig sein, d.h.: unbedingt erforderlich in einer demokratischen Gesellschaft und wirksam, um den legitimen Schutzzweck zu erreichen. Die Einschränkungen müssen einem legitimen Schutzzweck dienen, wie:
➡️ § Schutz anderer Menschenrechte,
➡️ § Schutz der Rechte anderer und der Allgemeinheit, also im Interesse der
➡️ § öffentlichen Sicherheit und Ordnung,
➡️ § öffentlichen Gesundheit,
➡️ § öffentlichen Moral.
Konkret: Quarantäne als grundsätzlich legitime Form des Freiheitsentzugs, wenn erforderlich, um die Verbreitung von ansteckenden Krankheiten einzudämmen, ist nach Art 5 EMRK (“the lawful detention of persons for the prevention of the spreading of infectious diseases”) einer von 6 legitimen Gründen für den Freiheitsentzug – ganz unabhängig vom Bestehen eines nationalen Notstands. Es gibt hier jedoch Einschränkungen, also eine zeitweise und teilweise Suspendierung einzelner Rechte: Es dürfen nicht alle Rechte in einem Wisch und umfassend suspendiert werden! Die Suspendierung muss auf den Notstand „zugeschnitten sein“, also durch den Notstand bedingt, nicht exzessiv, und zeitlich strikt auf den Notstand beschränkt sein. Das bedeutet (und das ist der springende Punkt): Notstandsgesetzgebung und die dazugehörigen Maßnahmen müssen mit Auslaufklauseln (sunset clause) versehen werden. Zudem sollten Notstandsmaßnahmen regelmäßig auf ihre Notwendigkeit (Verhältnismäßigkeit) überprüft werden. Sollte der Ausnahmezustand eine Verlängerung erforderlich machen, ist diese dann unter Wahrung aller rechtsstaatlicher und demokratischer Voraussetzungen vorzunehmen. Weiters sollten der Notstand und die Maßnahmen klar definiert und begründet sein. Sonst besteht die Gefahr, dass der Ausnahmezustand zum Normalzustand wird, und die exekutive Gewalt (die in Notstandsituation stärker wird) dauerhaft Überhand gewinnt. Menschenrechtsverträge und nationale Grundrechtskataloge sehen normalerweise solche Notstandsklauseln vor.
Die Österreichische
Rechtslage für den Notstand: ➡️ In Art. 15 erlaubt die EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention, in Ö in Verfassungsrang und somit Teil unserer Verfassungs- und Rechtsordnung) eine zeitweise und partielle Suspendierung bestimmter Grundrechte für die Dauer außerordentlicher Verhältnisse. In Österreich kommt diese Bestimmung allerdings wegen der günstigeren österreichischen Rechtslage, welche die Suspendierung von Grundrechten nicht vorsieht, nicht zum Tragen. Folglich gibt es in Ö keine Rechtsgrundlage für allgemeine Grundrechtsbeschränkungen aufgrund eines „nationalen Notstands“ (Staatsnotstands). Soll hier also eine grundrechtseinschränkende Notstandsgesetzgebung erlassen werden, gelten die regulären verfassungsrechtlichen Vorschriften für die rechtmäßige Einschränkung von Grundrechten. Gefahren lauern dort, wo der Ausnahmezustand zum Normalzustand werden könnte. So dürfen die Coronamaßnahmen nicht ausarten wie die Anti-Terrorgesetzgebung in den USA. Wir müssen besonders auf Kriegsrhetorik und gewisse militarisierende Maßnahmen wie überschießende Kontrollen der Binnengrenzen achten. Der Coronavirus darf nicht als „ausländisches Virus“ behandelt werden, um das langfristige Hochziehen von nationalen Grenzen und einen „nationalen Notstand“ oder die totale Abschottung zu legitimieren.
Eine der wichtigsten Fragen ist: Wann und wie kommen wir aus dem Ausnahmezustand heraus? ➡️ Der demokratische Rechtsstaat/liberale Demokratien sind ein fein austariertes System der „Checks and Balances“, ein komplexes Geflecht der Gewalten (Exekutive, Judikative, Legislative; Regierung und Opposition; Medien und Zivilgesellschaft) zur gegenseitigen Machtbegrenzung und Sicherung der Freiheit und Sicherheit in einem demokratischen Gemeinwesen. Allerdings braucht es auch sogenannte „watchdogs“ der Demokratie, die die momentanen Entwicklungen genau beobachten, auch um autoritären Entwicklungen wie in Ungarn sofort entschieden entgegen zu treten. In Österreich haben wir diese „Exitstrategie“ aus der Ausnahmesituation: Die Maßnahmen sind verhältnismäßig und mit Ablaufdatum versehen. Ein kritischer Diskurs ist möglich und das ist gut so!
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