Über den Tellerrand – Von der Corona-Krise zum Krisenherd
Lateinamerika entwickelt sich in der Corona-Krise zum Krisenherd: Auf dem südamerikanischen Kontinent gibt es mehr als 52.000 Tote und mehr als eine Million Infizierte. Angesichts der Fallzahlen in Brasilien, Peru, Chile und Mexiko warnt die WHO vor einem bevorstehenden Zusammenbruch der Gesundheitssysteme. Mit verheerenden Folgen für die ganze Welt:
Während die Pandemie in Europa langsam abzuklingen scheint, erreichen uns aus Lateinamerika täglich Nachrichten über Negativrekorde bei Neu-Infizierten und Corona-Toten. Die Gesundheitskrise wiegt umso schwerer, als die meisten Länder dort mit wesentlich ungünstigeren Rahmenbedingungen konfrontiert sind als der alte Kontinent: Krankenhäuser sind unterfinanziert, Sozialsystme schwach und die Volkswirtschaften liegen meist darnieder. Allein durch den Rückgang der Rohstoffpreise entsteht der gesamten Region ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden. Am stärksten betroffen ist hiervon Venezuela, das schon vor Ausbruch der Pandemie mit einer veritablen Staatskrise zu kämpfen hatte. Einige Länder sind zudem stark von der Unterbrechung der Wertschöpfungsketten betroffen, da sich viele Fertigungssektoren in der Region befinden. Vor allem der Rückgang der wirtschaftlichen Aktivitäten in China wirkt sich stark aus, da das Land ein wichtiger Markt für südamerikanische Exporte ist.
Was die zentralamerikanischen Länder angeht, so werden vor allem der Rückgang des Tourismus und das Herunterfahren der Wirtschaft in den USA negative Auswirkungen haben. Die Vereinigten Staaten sind der wichtigste Handelspartner sowie die größte Quelle ausländischer Direktinvestitionen und Rücküberweisungen in diese Länder. Besonders letzteres erweist sich derzeit als fatal – stellen in Mexiko und Zentralamerika die Überweisungen der in den USA jobbenden Verwandten doch für viele Familien die zentrale Einkommensquelle dar. Allein die Geldtransfers mexikanischer Migrant*innen in ihr Heimatland betrugen 2019 mehr als 36 Milliarden US-Dollar (32,6 Milliarden Euro) und machten damit knapp drei Prozent der mexikanischen Wirtschaftsleistung aus. Diese Unterstützung fehlt.
Die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen treffen also vor allem jene treffen, die davor schon in prekären Verhältnissen leben mussten. Laut einem Bericht der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) wird die die Zahl der Armen daher demnächst um 29 Millionen von 186 (2019) auf knapp 215 Millionen ansteigen. Um die größte Rezession seit 1914 und 1930 abzufangen, benötigt Lateinamerika laut CEPAL dringend Zugang zu finanziellen Ressourcen seitens multilateraler Finanzorganisationen, verbunden mit kostengünstigen Kreditlinien, Schuldendiensterleichterungen und möglichem Schuldenerlass. Sollten die entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt werden, wird allerdings darauf zu achten sein, dass sie tunlichst in einen neuen Entwicklungsstil mit Gleichberechtigung und ökologischer Nachhaltigkeit fließen. Klimawandel und Umweltzerstörung müssen beim Wiederaufbau hintangehalten werden. Gerade hier.
Alles in allem: Lateinamerika steht vor den größten politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der vergangenen 50 Jahre. Dabei sind die Auswirkungen für die Rechtsstaatlichkeit weitreichend: Der Rechtsstaat und die Demokratie kommen aktuell in allen Staaten unter Druck, hier besonders. Der autoritäre Trend wird anhalten, weil neue sozialen Unruhen drohen – so wie in Chile, Ecuador, Kolumbien und Bolivien letztes Jahr. Es ist davon auszugehen, dass viele lateinamerikanische Regierungen nicht zögern würden, diese mit dem Argument eines nationalen Notstands (mit Gewalt) zu unterdrücken. Angesichts der aktuellen Proteste und Ausschreitungen in den USA wäre das eine gefährliche Kombination mit Konsequenzen für alle anderen Kontinente der Welt. Umso mehr drängt sich auf: Der Sinn der Politik muss Frieden sein. Sonst wird der Krisenherd in Lateinamerika zum Hotspot der Krisen der Welt.
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