Um die Demokratie war es in Ungarn oder Polen schon vor der Corona-Krise schlecht bestellt – jetzt nutzt Polens „politischer Herrscher“Jarosław Kaczyński die Krise, um den Rechtsstaat weiter zu demontieren. Was gestern in Ungarn geschah, ist eindeutig ein gefährlicher Dammbruch. Was aktuell in Polen passiert, kommt einem Staatsstreich gleich. Die Europäische Union scheint gelähmt. Zum Glück regt sich Widerstand in der Bevölkerung, die Frage ist nur: Reicht das aus?

Ungarn ist aktuell bei weitem nicht das einzige Land mit autoritärer Schlagseite: Auch in Polen versuchen die Vertreter*innen der regierenden PiS-Partei gerade, ihre Macht unter dem Deckmantel der Epidemie weiter einzuzementieren: Am 10. Mai stünde dort die Präsidentschaftswahl an. Nachdem das öffentliche Leben stark eingeschränkt wurde – Versammlungen außer Messfeiern (sic!) sind untersagt – stellten alle Kandidat*innen den Wahlkampf ein. Präsident und (PiS-)Kandidat für die Wiederwahl Andrzej Duda jedoch nur offiziell. Er tourt nämlich als amtierender Präsident und oberster Krisenmanager durchs Land, fortwährend begleitet von sämtlichen Medien, während seine Herausforder*innen auf Social-Media-Kanäle beschränkt sind. Aus politischen, aber auch gesundheitlichen Gründen wird mittlerweile der Ruf nach einer Verschiebung der Präsidentschaftswahl immer lauter. Umfragen zufolge sind 70% der Pol*innen gegen die geplante Abhaltung, binnen weniger Tage haben bereits gut 150 000 Bürger*innen eine entsprechende Onlinepetition unterschrieben, die Gemeinden wollen diese aus Angst vor einer Ansteckung nicht durchführen. Auch die Opposition läuft Sturm: Es sei die Karikatur eines Wahlkampfes, befindet etwa der unabhängige Kandidat Szymon Hołownia, es sei kein faires Spiel, wenn nur ein Spieler auf dem Feld stehe und alle Tore schießen könne. Staatsrechtler*innen, der ehem. Verfassungsgerichtspräsident oder der langjährige Chef der Wahlkommission halten die Durchführung der Wahl im Ausnahmezustand wegen der Bevorzugung Dudas für verfassungswidrig. „Auf die Legalität von Wahlen wirke sich nicht nur aus, was am Wahltag geschieht, sondern auch, wie der Wahlkampf durchgeführt wird, ob die Wähler*innen Zugang zu allen Informationen hatten, und ob der Zugang aller Kandidat*innen zu den Medien gleich war“, so der Staatsrechtler Marcin Matczak.

Die PiS-Partei lässt derartige Kritik kalt. Um die Ausgangslage für Duda noch zu verbessern, ließ sie am vergangenen Wochenende in einem nächtlichen parlamentarischen Eilverfahren sogar das polnische Wahlrecht ändern, sodass nun bei besagter Wahl alle Pol*innen in Corona-Quarantäne und all jene über 60 Jahre per Briefwahl abstimmen dürfen. Dazu muss man wissen, dass die PiS bei der Wählerschaft über 60 zuletzt auf 55% der Stimmen kam – also weit mehr als die im Schnitt 40%. Den jüngeren und im Ausland lebenden Pol*innen – Gruppen, die oft gegen die PiS stimmen – bleibt die Briefwahl einfach verwehrt. Die Beschlüsse des Sejms (Nationalrat) kamen darüber hinaus in verfassungswidriger Weise zustande: Nach Artikel 123 dürfen Wahlrechtsänderungen nicht im Eilverfahren stattfinden. Mehr noch: Einem Urteil des Verfassungsgerichts von 2006 zufolge sind Wahlrechtsänderungen in den letzten sechs Monaten vor einem Wahltermin verboten.
Von solchen verfassungsrechtlichen Bedenken ließ sich die PiS nicht aufhalten. Wer das Verfassungsgericht in der Tasche hat, hat schließlich auch von dieser Seite nichts zu befürchten: Die Übernahme dieser Institution war nach ihrem Amtsantritt 2015 eines der ersten Projekte, welches die PiS in Angriff nahm.

Warum ist diese Wahl für die Regierungspartei PiS, der Duda angehört, jetzt so wichtig? Seit einiger Zeit versucht die Regierung die Justiz unter ihre politische Kontrolle zu bekommen. Auf Zwangspensionierungen von unliebsamen Richter*innen folgte die Einrichtung einer Disziplinarkammer und dann ein Richterdisziplinierungsgesetz, das es den Vertreter*innen des Standes verunmöglicht, sich gegen die eigene Entmachtung zu wehren. Die Gängelung der polnischen Justiz ging so weit, dass sie zum wiederholten Male die EU-Kommission auf den Plan rief. Diese leitete wegen der umstrittenen Gesetze bereits im Dezember 2017 ein Artikel 7-Verfahren gegen Polen ein. So etwas passiert nur dann, wenn ein EU-Mitglied die Grundrechte der EU (Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte) missachtet. Am Ende des Artikel-7 Verfahrens steht theoretisch der Stimmrechtsentzug eines Mitgliedslandes. Da die EU-Mitglieder in einem solchen Fall einstimmig für Sanktionen stimmen müssen und sich die Anti-Demokraten Europas gegenseitig die Mauer machen, muss sich die PiS-Partei hier einstweilen keine Sorgen machen. Ein Amt, dem in justizieller Hinsicht jedoch entscheidende Bedeutung zukommt, ist das der polnischen Präsident*in. Er oder sie kann mit seiner/ihrer Unterschrift all jene Gesetze in Kraft setzen, die zuletzt als verfassungswidrig kritisiert wurden, wie etwa jenes zur Richterreform. Würde jetzt also ein/e Oppositionskandidat*in ins Amt kommen, wäre die Macht der PiS stark eingeschränkt.

Die Demokratie und Rechtsstaat in Polen sind mit und ohne Corona-Krise in ernsthafter Gefahr – durch eine Partei, die zwar auf demokratischem Weg an die Macht gekommen ist, aber offenbar verhindern will, dass sie diese auf ebensolchem Weg auch wieder verlieren kann. Widerstand gegen diese autoritäre Entwicklung kann von der eigenen Bevölkerung kommen, muss aber auch von der EU geleistet werden und den anderen Mitgliedstaaten ausgehen. Es kann nicht sein, dass einige europäische Regierungen die Grundwerte so offenkundig ablehnen, bei Förderungen aus dem gemeinschaftlichen Topf aber sehr wohl die Hand aufhalten. Sich über Grundrechte hinwezugsetzen, darf auch deshalb nicht salonfähig werden, weil Europa Glaubwürdigkeit und Akzeptanz braucht. Grundsätzlich: Die Corona-Krise ist zweifelsfrei ein Lackmustest für die Demokratie in jedem Land, das sich für eine solche hält. Rechtsstaatliche Prinzipien dürfen gerade in Krisensituationen nicht zur eigenen Machterweiterung missbraucht werden. Gerade da ist die Versuchung für einige groß. Orbans Fidesz-Partei hat das Parlament entmachtet, in Polen greift die PiS-Partei mit verfassungswidrigen Gesetz nach der absoluten Macht. Diktaturen können sich wie ein Virus verbreiten. Wir sollten die Zeit gut nutzen, um allen Anti-Demokraten die rote Karte zu zeigen. Wege dazu gibt es genug.