Wer wissen will, was es heißt, in einer Diktatur zu leben, muss dieser Tage nur nach Weißrussland schauen. Dort führt ein autoritäres Regime aktuell Straßenkrieg gegen die eigene Bevölkerung, weil es deren Rückhalt verloren hat. Zum wiederholten Male wurden die Menschen in dem Land von Langzeitherrscher Lukaschenko, der seit 1994 durchgehend an der Macht ist, um ihre Wahl betrogen. Diesmal lassen sie es allerdings nicht auf sich beruhen, sondern fordern selbstbewusst die Achtung ihres Votums ein. Was ist passiert? Warum revoltieren die Weisruss*innen ausgerechnet jetzt? Weshalb lehnten sie sich nicht schon früher gegen die Willkür der Nomenklatura auf?

Über lange Zeit hinweg schaffte es Präsident Lukaschenko, die Wirtschaft seines Landes im Gleichgewicht zu halten. Während andere osteuropäische Länder in den ersten Jahren nach Aufgabe der Planwirtschaft durch ein ökonomisches Tal der Tränen marschierten, ließ Lukaschenko in seinem Reich die Sowjetunion einfach weiterexistieren. Mit einer niedrigen Arbeitslosenrate, einem guten Gesundheitssystem und einer funktionierenden Infrastruktur sicherte er der Bevölkerung ein bescheidenes Auskommen, bewahrte sie vor den sozialen Verwerfungen, welche marktwirtschaftlichen Reformen anderswo mit sich brachten und erkaufte sich im Gegenzug politische Apathie, die ihm die Ausübung uneingeschränkter Macht erlaubte.

Diese vermeintliche Stabilität war allerdings eine durchwegs künstliche. Die ineffiziente und international nicht konkurrenzfähige Staatsindustrie ließ sich nämlich nur mit Zuschüssen von außen aufrechterhalten. Jahrelang war es Russland, das diese Zuschüsse im Austausch gegen politisches Wohlverhalten gewährte. Sie kamen in Form von billigen Öls und Gases daher, das Belarus dann zu Weltmarktpreisen in den europäischen Westen weiterverkaufen konnte. In den Nullerjahren machten so die petrochemischen Produkte 30% der weißrussischen Exporte aus, obwohl das Land selbst kaum über entsprechende Rohstoffe verfügt.

Der für Lukaschenko so bequeme Deal begann allerdings immer mehr Risse, da Russland immer mehr Zugeständnisse für seine indirekten Finanzspritzen verlangte – ein Umstand, der regelmäßig für Verstimmung zwischen beiden Ländern sorgte. Wie sehr Belarus letztendlich von Russland abhängig war, zeigte sich, als das östliche Nachbarland im Jahr 2010 alle Subvention einstellte und die weißrussische Wirtschaft damit an den Rand des Ruins brachte. Auch wenn die Russen die ökonomischen Daumenschrauben mittlerweile wieder gelockert haben, ist der Support aus dem Osten schon lange nicht mehr so billig zu haben wie in den ersten Jahren der Partnerschaft und so wie es derzeit aussieht, ist auch kein Sponsor in Sicht, der bereit wäre, den „Großen Bruder“ zu ersetzen. Einer wirtschaftlichen Annäherung an den Westen steht nach wie vor der Unwille Lukaschenkos entgegen, seine Schmalspur-Sowjetökonomie für Reformen zu öffnen.

Als der Wirtschaftsmotor zu stottern begann, litt unweigerlich auch der ungeschriebene Gesellschaftsvertrag zwischen Lukaschenko und einer auf Untertänigkeit getrimmten Bevölkerung. Je tiefer die Popularität des Präsidenten sank, desto mutiger wurden seine potentiellen Herausforderer, die der Alteingesessene wiederum nur mittels repressiver Maßnahmen mundtot machen konnte. Einem stalinschen Leitspruch folgend – „kein Mensch, kein Problem“ – entledigte sich Lukaschenko in den Monaten vor der Wahl aller ernst zu nehmenden Konkurrenten sowie anderer vermeintlicher Oppositioneller durch Einschüchterung und Massenverhaftungen. Es war ein Zeichen unglaublichen Mutes, als die politisch unerfahrene Lehrerin und Mutter zweier kleiner Kinder, Swetlana Tichanowskaja, beschloss, anstelle ihres inhaftierten Mannes als Präsidentschaftskandidatin anzutreten.

Das offizielle Wahlergebnis, das dem Amtsinhaber 80,2% der Stimmen bescheinigte, bot aber keine Überraschung. Im Grunde hätte sich Lukaschenko die Wahlen eigentlich sparen können. Frei nach dem Motto „traue keiner Wahl, die du nicht selbst fälscht“, hatte er schon im Vorhinein unter Einsatz aller administrativer Ressourcen für einen entsprechenden Ausgang gesorgt. Aber selbst Diktatoren legen mittlerweile Wert darauf, sich das Mäntelchen demokratischer Legitimität umhängen zu können und stellen dieses mitunter gar dreist zur Schau. So rühmte sich der weißrussische Präsident bei seinem letzten Besuch in Wien noch der „demokratischen“  Zustände seines Landes. Offenbar ist es auch für autoritäre Herrscher angenehm, als ebenbürtige Staatsmänner im Kreise internationaler Kolleginnen und Kollegen wahrgenommen zu werden. Wollen die Länder der Europäischen Union ihre eigenen demokratischen Spielregeln und damit auch ihre Glaubwürdigkeit behalten, dürfen ihre Exponent*innen die Usurpatoren dieser Welt nicht mehr hofieren. Wer als Staatschef auf internationalen Empfängen dabei sein will, muss auch den Nachweis erbringen können, dass er seine Funktion auf demokratische Weise erlangt hat.

Mittlerweile überschlagen sich die Ereignisse. Lukaschenko bezieht seine „Legitimität“ aus keinem Wahlergebnis mehr, sondern nur mehr aus Tränengas und Blendgranaten. Im Hinblick auf die Brutalität, die er gegenüber der eigenen Bevölkerung  an den Tag legt, ist es auch für die Staaten der Europäischen Union an der Zeit, die Samthandschuhe im Umgang mit seinem Regime auszuziehen. In der Hoffnung auf ein politisches Tauwetter in Weißrussland, dass aus Untertanen endlich Bürger*innen macht, hat die EU in den vergangenen Jahren die Sanktionen gegenüber Vertreter*innen des Regimes gelockert. Diese Politik ist offensichtlich gescheitert. In einer gemeinsamen Erklärung denken die 27 EU-Mitgliedstaaten bereits wieder „Maßnahmen“ gegen Vertreter*innen des Regimes an. Das ist gut so. Will die Europäische Union sich und seine liberalen Grundwerte ernst nehmen, darf es Wahlfälschung und Unterdrückung in einem Land, mit dem eine sogenannte „östliche Partnerschaft“ geführt wird, nicht als normalen Zustand hinnehmen. Gleichzeitig muss die internationale Gemeinschaft die demokratischen Kräfte in Weißrussland unterstützen, um zu verhindern, dass das Land in die Arme des demokratisch ebenfalls schlecht beleumundeten Russlands getrieben wird.

Eines ist nach den Ereignissen der letzten Tag klar. Die Tage Lukaschenkos scheinen gezählt, niemand kann sich auf Dauer gegen den Willen der eigenen Bevölkerung an der Macht halten. Je brutaler Lukaschenko vorgeht, desto rascher zerbröselt seine noch verbliebene Autorität. Wenn ihm das Wohl seines Landes wirklich so am Herzen liegt, wie er gerne betont, dann muss er die Übergriffe gegen die eigene Bevölkerung sofort einstellen, alle politischen Gefangenen sowie Journalist*innen freilassen und gegebenenfalls eine Wahlwiederholung unter Aufsicht internationaler Beobachter*Innen wie der OSZE zulassen. Nur so kann verhindert werden, dass sich aus der jetzigen Situation noch Schlimmeres entwickelt.