Zum Europatag 2022 ein kleiner historischer Rückblick und ein Ausblick nicht ohne Hoffnung – trotz allem.

Als „Freedom Fighter“ der ersten Stunde für die europäische Idee im Osten wird er stets vorgestellt und bei Gesprächen darüber, wohin der Weg der Ukraine führt, greift er auf 50 Jahre politische Erfahrung zurück. In Kiew traf ich Bogdan Borusewicz wieder, der nicht nur gemeinsam u.a. mit Walesa die Solidarność-Bewegung in Polen zum Leben erweckte, sondern seit Anfang der 1970er Jahre für Freiheit und Demokratie und ein vereintes Europa kämpft und wie kaum ein anderer den aktuellen Kampf der Ukraine in diesen Fragen unterstützt. Der französische Außenminister Robert Schumann sagte am 9. Mai 1950 zu Recht und mit Weitblick: „Europa wird wachsen durch die Solidarität der Tat.“ Wie wichtig, dass gerade jetzt angesichts des Krieges dieser Weitblick und die Erfahrung nicht verloren geht, aber der Reihe nach:

Seit 1986 wird am heutigen Tag der Europatag begangen. Anlässlich dieses Feiertags halten wir über das politische Tagesgeschäft hinaus inne, um mit einem bilanzierenden Blick von außen auf die innere Entwicklung der Europäischen Union zu schauen. Welche Kompetenzen soll die EU haben, welche Institutionen brauchen wir dazu, was sind die nächsten großen Integrationsprojekte? All diese Fragen sind weiterhin aktuell und doch ist heuer alles anders. Die momentane Lage in Europa führt dazu, dass die eigentliche Ursprungsidee für diesen Feiertag wieder in den Fokus rückt. Es war nämlich die Friedensidee, die am Anfang der Europäischen Union stand. Der zündende Funke war die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Wie ist das zu verstehen? Kohle und Stahl waren zwei kriegswichtige Materialien. Indem die Bewirtschaftung dieser Materialien gemeinschaftlich geregelt wurde, sollte der Frieden bewahrt und ein Krieg zwischen den Erzrivalen Deutschland und Frankreich unmöglich gemacht werden. Am 9. Mai 1950 regte Schumann an, diese Produktionsgemeinschaft zu gründen.

Schritt für Schritt nahm die Gemeinschaft Formen an. 1957 unterzeichneten die Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft für Kohle und Stahl – Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg die Römischen Verträge, welche die wirtschaftliche Zusammenarbeit vertieften.

Mit diesen Verträgen war der Grundstein für die heutige EU gelegt. Bis heute gilt, trotz aller berechtigten Kritik an zahlreichen Baustellen der Union: Die EU als Friedensprojekt wurde zu einem durchschlagenden Erfolg. Ein Krieg unter seinen Mitgliedsstaaten ist schier undenkbar. Wir haben bei der Entwicklung dieses Projekts aber eines zu wenig bedacht, und zwar, um es mit Schiller zu sagen: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Dabei ist es ja nicht so, als ob uns diese „Weisheit“ keiner hätte vermitteln wollen. Seit 30 Jahren warnen viele osteuropäischen Staaten vor der Gefahr, die vom imperialen Missionsdrang Russlands ausgeht. Sie wissen nur zu gut, wovon sie sprechen. Alle diese Länder wurden Opfer einer Politik, die seit Jahrhunderten verlässlich eine Konstante aufweist: Territoriale Expansion hat Priorität vor innerer Entwicklung. Es war neben der wirtschaftlichen Entwicklung auch einer der Hauptgründe, weshalb diese Länder in die Europäische Union und im Übrigen auch in die NATO drängten. Sie wähnten diese Institutionen als sichere Häfen, die es ihren Gesellschaften erlauben würden, so wie der Rest Europas eine friedliche Entwicklung zu nehmen. Nicht von ungefähr ist das im Falle der Ukraine aktuell beides so ein brennendes Thema. Fakt ist: „Westeuropa“ hat viel zu wenig auf „Osteuropa“ gehört, um nicht zu sagen, die Interessen der osteuropäischen Staaten bei der europäischen Integration oft bewusst überhört.

Spätestens als Putin 2014 zu den Waffen gegriffen hat, um zu verhindern, dass die Ukraine, so wie andere Staaten aus dem vormals sowjetischen Einflussbereich auch, eine europäische Entwicklung nehmen kann, hätten wir alarmiert sein sollen. Mit dem aktuellen Donnerschlag wurde so erst jetzt Europa unsanft aus seinem Dornröschenschlaf geweckt und wir stehen nun vor Herausforderungen, die viele vor wenigen Monaten noch nicht für möglich gehalten hätten. Eines hat Europa aber relativ rasch gelernt: Um in Frieden und Freiheit leben zu können, müssen wir auch für diese Werte einstehen. Der Angriffskrieg auf Ukraine hat uns auch vor Augen geführt, dass diese nie an Wertigkeit verlieren dürfen. Dass sie heute genauso wichtig sind, wie 1950 bei Schuhmanns Rede, 1980 bei Borusiewicz und dem Beginn der Solidarność, 2014 bei der Ost-Erweiterung und der Krim-Besetzung und 2022 während wir um das elementarste in diesem Europa ringen – nämlich Frieden und Demokratie. Oder wie mein Freedom-Fighter-Freund aus Polen sagen würde: Der Wille der Menschen, in Ruhe und ohne Repression zu leben, will am Ende siegen. In diesem Sinne: Happy Europatag!