Was vor einem Jahr galt, gilt auch heute: Die westliche Staatengemeinschaft steht felsenfest an der Seite der Ukraine, die sich seit nunmehr fast einem Jahrzehnt der von Putin lancierten Aggression erwehren muss. Unser Beistand mit dem überfallenen Land ist angesichts der russischen Kriegsverbrechen und Völkerrechtsverletzungen nicht nur ein moralisches Gebot, sondern auch eine sicherheitspolitische Verpflichtung. Wie die Geschichte zeigt, wächst Russlands territorialer Appetit mit jeder Eroberung. Zudem würde unsere Welt, wenn die gewaltsame Einverleibung von fremden Gebieten erfolgreich Schule macht, ein noch unsicherer Ort, als er es ohnehin schon ist. Sollten die EU und ihre internationalen Partner einem nach Demokratie und Freiheit strebenden Land in dieser existenziellen Krise nicht die volle Solidarität zukommen lassen, wäre dies ein fatales Signal in die Welt. Das System der liberalen Demokratie würde im Falles eines russischen Sieges immens an Glaubwürdigkeit einbüßen und angesichts der scheinbaren Durchsetzungsfähigkeit imperialistischer Autokratien als staatliches role model quer über den Globus an Attraktivität verlieren. Insofern ist der Weg, den die „freie Welt“ in dieser Situation gehen muss, klar vorgeben.

Ich gebe in diesem Zusammenhang auch zu bedenken, dass in vielen Teilen der Welt außerhalb Nordamerikas und Europas der Krieg in der Ukraine mit anderen Augen gesehen wird. In vielen Ländern Südamerikas, Afrikas oder Asiens zählen weniger der von Russland begangene Bruch des Völkerrechts oder die in der Folge begangenen Kriegsverbrechen, dort wird aufgrund postkolonialer Erfahrungen vielmehr in geopolitischen Kategorien gedacht. Da der „Westen“ in dieser Hinsicht in vielen dieser Länder als dominant wahrgenommen wird, stehen sie Entwicklungen, die dessen Einfluss zurückdrängen, nicht abgeneigt gegenüber. Dieser auch in jüngsten Studien untermauerte Umstand zeigt uns, dass wir mit den entsprechenden Staaten in einen viel stärkeren inhaltlichen Austausch treten müssen. Da ist sicher ein wichtiges „Learning“ ein Jahr nach der Invasion.

Eine weitere zu denken gebende Erkenntnis ist der scheinbar paradoxe Umstand, dass in unseren von demokratischen Errungenschaften durchzogenen Breiten offenbar gar nicht wenige Leute leben, die einem Autokraten das Wort reden, welcher den Menschen in seinem Machtbereich genau jene Freiheiten raubt, welche seine westlichen Apologet:innen zurecht genießen. Ich orte hier demokratiepolitische Defizite, derer sich die politische Führung in europäischen Staaten tunlichst annehmen sollte.

Solange der Krieg in der Ukraine tobt, muss jetzt jeder Staat innerhalb der Solidargemeinschaft jenen Beitrag leisten, zu dem er sich imstande sieht. Österreich als militärisch neutrales Land kann auf der humanitären Ebene viel bewirken. Jede Tat, die das Leid der Millionen vom Krieg Betroffenen zu lindern vermag, ist eine gute und richtige. Österreich hilft darüber hinaus bereits intensiv bei der Dokumentation und Aufarbeitung von Kriegsverbrechen. Die Vorsitzende des Kiewer Zentrums für Bürgerliche Freiheiten (Centers for Civil Liberties, CCL) Oleksandra Matwijtschuk hat kürzlich bei einem Symposium in Wien davon gesprochen, dass ihre Organisation inzwischen 31.000 Fälle von Kriegsverbrechen dokumentiert hat. In einem jüngst vorgelegten Bericht des Yale Humanitarian Research Lab ist von der Verschleppung von mindestens 6.000 ukrainischen Kindern in russische Umerziehungslager die Rede. Kinder ihren Familien zu entreißen und sie zu Feinden ihrer eigentlichen Identität zu erziehen, ist an Bösartigkeit kaum zu überbieten. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir diese Fälle leider nur dokumentieren. Im Zuge von früher oder später stattfindenden Friedensverhandlungen können diese Informationen aber dazu dienen, die Kinder zu ihren Familien zurückzubringen. Und im Falle von etwaigen Kriegsverbrecherprozessen werden sie helfen, die Übeltäter:innen zur Verantwortung zu ziehen.

Die Menschen in der Ukraine sind wohl jene, die sich am meisten nach dem Frieden sehnen. Gleichzeitig ist aber allen klar, dass dieser Friede ein gerechter sein muss. Was die ukrainische Bevölkerung darunter versteht, das kann nur sie alleine entscheiden. Ein russischer Diktatfrieden würde jedenfalls keine nachhaltige Sicherheit bieten und die Bevölkerung in den besetzten Gebieten weiterhin dem Terror, der Verfolgung und der Verschleppung der Okkupanten aussetzen. Wer etwas in diese Richtung fordert, handelt entweder zynisch oder ihm bzw. ihr ist das Schicksal der Ukrainer:innen ganz einfach egal.